Beispiel zu diesem Perspektivenwechsel:
Im Rahmen des klassischen Kernstrafrechts wird die Bedeutung der Tötungstatbestände im Schutz des menschlichen Lebens gesehen und der Todesbegriff in einer Weise definiert, der diesem Zweck am besten gerecht zu werden erscheint. In der Medizin (als einem Teilbereich der Wirtschaft) beschreibt gerade das strafrechtlich fixierte Datum des Todeszeitpunkts der Transplantationsmedizin oder der Forschung wichtige Grenzen ihrer Handlungsfreiräume[380].
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Damit unterscheidet sich der hier vertretene Ansatz aber auch von der herrschenden Meinung im Wirtschaftsstrafrecht: Diese verlangt zur Legitimation der Einschränkung des ultima ratio Grundsatzes einen positiven Saldo der durch eine strafrechtliche Norm beschränkten Freiheit mit den durch alternative Regelungssysteme verbundenen Freiheitseingriffen[381]. Eine solche Auffassung interpretiert die Verpflichtung des Staates auf die Gewährleistung und Schaffung individueller Freiheit insoweit fehl, als die Freiheit Dritter nicht mit individueller Freiheit saldiert werden kann. Hoheitliche Eingriffe in individuelle Freiheiten stehen grund- und menschenrechtlich vor einem strengen Vorbehalt der Erforderlichkeit freiheitsbeschränkender Maßnahmen. Die Schwere des Eingriffs fordert mehr als nur einen im konkreten Fall über die individuelle Freiheitsbeschränkung hinausgehenden Freiheitsgewinn Dritter. Erforderlich ist eine insgesamt am Postulat größtmöglicher individueller Freiheit ausgerichtete Gestaltung staatlicher Institutionen einschließlich des Wirtschaftsstrafrechts. Eine Norm ist daher dann gerechtfertigt, wenn der Einzelne – losgelöst von der konkreten Situation – in einer Rechtsordnung, in der die betreffende Norm gilt, insgesamt größere Freiheitsräume hat, als wenn diese Norm nicht gelten würde.
b) Mögliche Einwände und deren Tragweite: Vorrang der Prävention vor der Reaktion; Verweis auf die Selbstverantwortlichkeit der Wirtschaftsteilnehmer
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Dieser Sicht könnte man auf den ersten Blick entgegen halten, die Instrumentalisierung des Strafrechts zum Steuerungsinstrument verkenne die Subsidiarität der strafrechtlichen Reaktion gegenüber rein präventiven Maßnahmen[382]. Der Vorrang der Prävention vor der Reaktion ist sicherlich bedeutsam. Wer sich einbildet, er könne Normeinhaltung vor allem durch Strafrecht erreichen, der läuft außerdem Gefahr, die Möglichkeiten des Strafrechts zu überschätzen[383].
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Mit der Gegenüberstellung von Reaktion und Prävention werden die Leistung und die Funktion des Wirtschaftsstrafrechts allerdings nicht hinreichend beschrieben. Im Wirtschaftsstrafrecht werden gerade mit dem Normerlass mögliche externe Effekte in die Kostenstruktur wirtschaftlichen Handelns internalisiert, der rechtlich zulässige Handlungsrahmen begrenzt und wirtschaftliche Prozesse in einer Weise determiniert, wie dies durch andere, nicht-sanktionierende Steuerungsmechanismen kaum möglich ist[384]. Gerade das Wirtschaftsstrafrecht erhält einen Großteil seiner Legitimation daher aus seiner besonderen generalpräventiven Wirkung.
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Strafrechtliche und außerstrafrechtliche Steuerungssysteme dürfen dabei nicht streng alternativ angesehen werden, sondern müssen als funktionale Einheit betrachtet werden[385]. Es geht also weder um einen Vorrang der Prävention vor der Reaktion noch um ein Ausschlussverhältnis im Sinne eines Entweder-Oder. Gefordert ist eine sinnvolle Ergänzung der auf Ausgleich, Beratung, Kooperation, Kontrolle und Sanktion für den Fall der Zuwiderhandlung ausgerichteten rechtlichen Regelungen zu einem Gesamtsystem, das die divergierenden individuellen Freiheitsansprüche zu einem angemessenen Ausgleich bringt.
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Der Versuch, die Subsidiarität des Strafrechts mit einer größeren Selbstverantwortung der Wirtschaftsteilnehmer begründen zu wollen, trägt ebenfalls nicht sehr viel weiter[386]. Dies gilt erst recht für den Einwand, soweit das Strafrecht einseitig bestimmte Interessen eines Vertragspartners schütze, widerspreche es der üblichen vertraglichen Risikoverteilung[387]. Die Selbstverantwortung des Einzelnen muss von Beginn an in einem System gesellschaftlicher konkretisierter Handlungsmöglichkeiten gesehen und in dieses integriert werden. Das Maß der notwendigen Selbstverantwortung hängt – wie gerade spieltheoretische Ausführungen zeigen[388] – vielmehr seinerseits ganz entschieden von der gesellschaftlich vorgegebenen Verteilungsordnung von Informations- und Transaktionskosten ab. Sanktionen – insoweit verstanden als kollektiv ausgeübte Kontrolle ex post – können die Risikoverteilung derart verändern, dass listiges Verhalten unattraktiv und (teurere) individuelle Kontrolle weitgehend überflüssig wird. Umgekehrt kann das Fehlen einer Sanktion individuelle Kontrollmechanismen erforderlich machen, Transaktionen in einer Weise verteuern, dass dies aus der Sicht aller Wirtschaftsteilnehmer unerwünscht ist.
Beispiel:
Viele moderne rechtliche Konstruktionen beruhen darauf, dass gewisse einem Individuum zustehende Freiheiten Dritten zur Ausübung übertragen werden können, ohne dass zuvor umfangreiche Kontrollmaßnahmen durchgeführt werden müssen. Derartige Instrumente sind auf eine sanktionenrechtliche Flankierung geradezu angewiesen, da erst die Sanktionsdrohung – z. B. des Untreuetatbestandes[389] – den Missbrauch eingeräumter Handlungsbefugnisse unter rational handelnden Akteuren zu verhindern hilft.
c) Inhalt des Subsidiaritätspostulats nach der hier vertretenen Auffassung: Beschränkung auf die Bereiche leicht möglicher individueller Risikovorsorge und insbesondere auf die Wahl der Sanktionen
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Das Postulat der Subsidiarität des Strafrechts gilt damit vor allem dort, wo institutionen- und transaktionskostentheoretische Postulate den Einsatz von Strafe nicht fordern. Konkret verbleiben für das Wirtschaftsstrafrecht damit vor allem drei Kernbereiche, in denen der Gedanke der Subsidiarität weiterhin Geltung beanspruchen kann:
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Der erste Bereich setzt sich aus all denjenigen Feldern zusammen, auf denen die staatliche Risikoverteilung durch andere Handlungssysteme zumindest gleichermaßen wirksam durchgesetzt bzw. die Verletzung der hoheitlich geschützten Interessen durch andere Maßnahmen sicher verhindert werden kann, ohne individuelle Freiheiten übermäßig einzuschränken. Tatsächlich sind solche Bereiche, in denen auf eine strafrechtliche Flankierung gänzlich verzichtet werden kann, freilich nur sehr beschränkt vorstellbar. Dies gilt insbesondere dann, wenn man auch solche Handlungssysteme ausschließt, die, um den Rückgriff auf das Kriminalstrafrecht zu vermeiden, auf andere Haftungssysteme zurückgreifen wollen. Solche Strategien sind schon deshalb ganz prinzipiell abzulehnen, weil damit ein Strafrecht im weiteren Sinne außerhalb der besonderen Garantien des Strafrechts im engeren Sinne etabliert werden könnte[390].
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Der zweite Bereich beschreibt Situationen, in denen die Einzelnen mit einfachen Mitteln selbst in der Lage sind oder sich durch Lernprozesse und eigene Risikovorsorge leicht in die Lage versetzen können, Beeinträchtigungen durch Dritte mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu vermeiden: Wo eigene Risikovorsorge leicht möglich ist, zieht die private Risikovorsorge nur geringe Transaktionskosten nach sich. Ein Eingreifen hoheitlicher Sanktionsmechanismen lässt sich daher nur schwer legitimieren. Hoheitliche Sanktionen könnten zwar noch aus sozialstaatlichen Erwägungen legitimiert werden, indem darauf abgestellt wird, dass auch und gerade der schwächer gestellte Wirtschaftsteilnehmer des Schutzes durch die Institutionen der Gemeinschaft bedarf. Diesem Einwand wurde freilich durch die Beschränkung des Subsidiaritätspostulats auf die Bereiche einfacher und leicht möglicher individueller Risikovorsorge bereits Rechnung getragen. So würde etwa die grundsätzliche Bestrafung übertreibender Werbung schon deshalb gegen das Postulat der Subsidiarität staatlichen Strafens verstoßen,