165
In einem solchen Fall mag die drohende Gefahr zwar erkennbar sein, die erkennbare Gefahr darf mit der tatsächlichen Gefahr indessen noch nicht gleichgesetzt werden. Ob der Unternehmer diesen Beton tatsächlich ausliefern wird, ob nochmals eine Kontrolle vorgenommen wird und ob diese Kontrolle, den Fehler aufdeckt oder ob der Unternehmer beabsichtigt, dem Gemisch weitere Stoffe beizumischen, die den Beton dem geforderten Beton gleichwertig machen würden, ist ungewiss. Eine Situation der Ungewissheit darf damit nicht mit der Situation einer Gefahr gleichgesetzt werden. Fehlt aber eine Gefahr für ein Rechtsgut, entfällt eine wesentliche Legitimationsgrundlage für die Strafbarkeit eines Verhaltens überhaupt. Außerdem verlieren die nach der traditionellen Sichtweise verbleibenden Gründe einer Versuchsstrafbarkeit, die Betätigung des rechtsfeindlichen Willens und der Eindruck der Tat auf die Allgemeinheit, an Überzeugungskraft. Liegt das Verhalten im Vorfeld jeglicher Gefährdung, wird es in aller Regel objektiv neutral sein[364]. Von objektiv neutralem Verhalten kann aber zum einen kein schädlicher Eindruck auf die Allgemeinheit ausgehen; zum anderen bezieht sich der rechtsfeindliche Wille auf ein in der Zukunft liegendes Verhalten und ist daher im eigentlichen Sinne gerade noch nicht betätigt worden.
166
Um diese Konsequenz zu vermeiden, setzt ein für den Versuch des abstrakten Gefährdungsdelikts relevantes unmittelbares Ansetzen gem. § 22 StGB in der Regel den unmittelbaren Beginn mit der tatbestandsmäßigen Handlung voraus[365]. Die (Teil-)Verwirklichung der tatbestandsmäßigen Handlung muss aus demselben Grund auch bei konkreten und potentiellen Gefährdungsdelikten vorausgesetzt werden[366]. Raum für eine wirkliche Vorverlagerung der Strafbarkeit durch die Regeln des Versuchs bleibt zumeist also nur bei konkreten Gefährdungsdelikten und untauglichen Versuchen. Hält man für die konkreten Gefährdungsdelikte daran fest, dass der Tatentschluss entsprechend dem Vorsatz des vollendeten Delikts die konkrete Gefährdung mit umfassen muss, wird der Tatentschluss in der Praxis freilich kaum nachweisbar sein[367].
ff) Die Erweiterung der Strafbarkeit über den unmittelbar Handelnden hinaus auf weitere Personen
167
Für die Ausdehnung der Strafbarkeit über den unmittelbar Handelnden hinaus auf weitere Personen und damit die horizontale Ausdehnung der Strafbarkeit gelten für das Gefährdungsdelikt zunächst die für das Verletzungsdelikt entwickelten Regeln und Prinzipien.
168
Viele praktisch bedeutsame Gefährdungsdelikte – wie etwa die §§ 316, 325, 327 StGB – sind wegen ihrer Bezugnahme auf eine spezifische Handlungssituation jedoch als eigenhändige Delikte oder Sonderdelikte ausgestaltet[368]. Dies führt zu einer Begrenzung des Kreises möglicher Täter, sodass die Strafbarkeit von vorsätzlich handelnden Außenstehenden auf die allgemeinen Regeln der Teilnahme beschränkt ist und die Strafbarkeit nur fahrlässig handelnder Dritter gänzlich ausgeschlossen ist. Die Beschränkung der Verantwortlichkeit Dritter ist wiederum Ausfluss der Gefährdungsdelikte als Steuerungsinstrumente konkreter Erfahrungsräume. Soweit sich die Gefährdungsdelikte auf Personen in einer bestimmten Handlungssituation beziehen, ist es folgerichtig, außenstehende Dritte durch die Norm gerade nicht anzusprechen.
c) Untergeordnete Bedeutung sonstiger Deliktsformen
169
Neben den beiden grundlegenden Straftatkategorien des Verletzungsdelikts und des Gefährdungsdelikts hat die Strafrechtsdogmatik noch weitere Deliktsformen herausgearbeitet. Dazu gehören etwa die Besitz-, Tätigkeits- und Unternehmensdelikte oder die Organisationsdelikte. Die Unterscheidung zwischen Verletzungs- und Gefährdungsdelikt bezieht sich freilich auf die Verletzung oder Gefährdung der jeweiligen Rechtsgüter, während mit den Begriffen der Besitz-, Tätigkeits-, Unternehmens- oder Organisationsdelikte tatbestandsmäßige Verhaltensweisen kategorisiert werden. Als steuerungsdogmatische Kategorien können diese Typisierungen für das Wirtschaftsstrafrecht jedoch vernachlässigt werden[369]:
aa) Tätigkeitsdelikte
170
Tätigkeitsdelikte sind Tatbestände, die bereits die – zum Teil auch nur fahrlässige – Vornahme bestimmter Tätigkeiten unter Strafe stellen. Beispiele sind im Nebenstrafrecht etwa der Verstoß gegen Meldepflichten oder Vorschriften über die Lagerhaltung[370]. Der Tatbestand ist so gefasst, dass es für das Verhängen einer Sanktion nicht darauf ankommt, dass ein Erfolg eintritt[371]. Probleme bereitet freilich die Tatsache, dass die Übergänge zwischen einer relativ konkreten und einer relativ abstrakten Beschreibung der tatbestandsmäßigen Handlung fließend sind. Im letzten Fall liegt daher die Annahme eines Erfolgsdelikts und nicht eines Tätigkeitsdelikts nahe[372]; bei einer konkreten Handlungsbeschreibung, wie bei den Aussagedelikten, lassen sich die Tätigkeitsdelikte häufig den Gefährdungsdelikten zuordnen.
bb) Unternehmensdelikte
171
Bei den Unternehmensdelikten werden der Versuch und die Vollendung der Rechtsgutsverletzung durch § 11 Abs. 1 Nr. 6 StGB grundsätzlich gleichgestellt[373]. Damit entfallen die für den Versuch vorgesehene fakultative Strafmilderung gem. § 23 Abs. 2 StGB und das Privileg eines strafbefreienden Rücktritts gem. § 24 StGB. Darüber hinaus sind die Besonderheiten des Unternehmensdelikts wenig untersucht[374]. Der Normbestand ist indessen kaum von praktischer Bedeutung und liegt hauptsächlich in Randbereichen des Kriminalstrafrechts[375].
cc) Organisationsdelikte
172
Für das Wirtschaftsstrafrecht ebenfalls von geringer praktischer Bedeutung sind derzeit noch die Organisationsdelikte[376]. So sanktionieren die §§ 127 ff. StGB bereits die Mitgliedschaft in einer per se sozialschädlichen Organisation wie etwa kriminellen oder terroristischen Vereinigungen. Wirtschaftsunternehmen erfüllen zwar grundsätzlich alle Erfordernisse, die an den Begriff einer Vereinigung im Sinne dieser Vorschrift gestellt werden. Jedoch bestimmt sich ein Unternehmen seinem Wesen nach durch seine ökonomische Orientierung und fällt damit aus dem Anwendungsbereich dieser Normen.
4. Subsidiarität strafrechtlicher Steuerung?
173
Bereits im Rahmen der einführenden Ausführungen zu den strafrechtlichen Steuerungsmechanismen wurde auf die Konzeption des modernen Strafrechts als rechtsstaatliches und liberales Strafrecht hingewiesen. Aus der Verwurzelung des Strafrechts in der freiheitlich strukturierten Gesellschaft folgt nach ganz überwiegender Meinung, dass das Strafrecht nur als letztes Mittel eingesetzt werden darf. Das Strafrecht sei die ultima ratio staatlichen Handelns und staatlicher Sozialpolitik. Es sei daher eine subsidiäre Handlungsoption und seinem Wesen nach fragmentarisch[377].
a) Abweichung gegenüber dem klassischen Postulat der Subsidiarität des Strafrechts: Perspektivenwechsel von der Legitimation individueller Strafe zur Gestaltung sozialer Institutionen
174
Die vorstehenden Ausführungen, insbesondere zum Zweck der Strafe, zum Inhalt der Sanktion im Wirtschaftsstrafrecht und zum Normadressaten in seiner Funktion als Wirtschaftsteilnehmer, haben für das Wirtschaftsstrafrecht eine signifikante Abweichung gegenüber dieser klassischen Auffassung deutlich werden lassen.