Der letzte Stein. Ilse Nekut. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ilse Nekut
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783991077077
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in einer großen Halle waren Leute mit Kabeln, Scheinwerfern und sonstigem Undurchschaubaren beschäftigt. Auf einer Seite der Halle war ein altes Taxi auf einem Podest aufgebaut, mit dem ‚Gesicht‘ zum Publikum. Die Vorderfront des Wagens war abmontiert, wie weggerissen. Dora war erschüttert, dass man ein Auto so entzweigeschnitten hatte. Es war ein unangenehmer Anblick. In der hinteren Front des Wagens war ein Fenster eingelassen. Dora wusste nicht so recht, wozu das alles dienen sollte. Dass hier ein Film in Arbeit war, das hatte ihr Vater schon gesagt, aber mehr nicht.

      Dann kamen die Schauspieler. Ein Mann, eine Frau, sonst niemand, und sie waren gekleidet wie in Doras Märchenbuch. Die Dame in einem langen, hellen, glitzernden Kleid, gespickt mit Edelsteinen. Dora war sich sicher, dass dieses Kleid unendlich kostbar war. Ein ausladender, weißer Hut und eine goldene Federboa ergänzten das Bild einer reichen Lady.

      Der Herr, der neben der Dame die Szene betrat, trug einen Stresemann und einen Zylinder. Dass es sich um einen Stresemann handelte, wusste Dora. So ein Kleidungsstück hatte ihr die Lehrerin auf einem Bild gezeigt.

      Die zwei Schauspieler setzten sich auf die hintere Sitzbank des zerrissenen Taxis, sahen nach vorne zum Kameramann und zu den nicht vorhandenen Zuschauern. Die Lady und der Herr lächelten und begannen zu reden. Das alles auf Befehl eines Mannes, der auf einem Klappstuhl saß, den Schauspielern zusah und in diesem ganzen Geschehen sehr wichtig war, das war Dora klar. Nach den Worten ‚Uuuund bitte‘ unterhielten sich die Lady und der Herr angeregt. Hinter dem Rückfenster waren bewegte Straßenbilder, Bäume, andere Autos zu sehen. Doras Vater erklärte mit einem gewissen Stolz:

      „Diese Bilder werden auf die Rückwand hinter dem Taxi projiziert, so dass der Zuschauer glaubt, die beiden fahren durch Straßen und Alleen. Verstehst du, Dora?“

      Dora verstand nicht, bejahte aber eilig. Was ‚projiziert‘ bedeutete, wusste sie nicht, aber es musste eine Art Zauber sein. Unglaublicher Zauber. Zu der phantastischen Szene kam zu guter Letzt noch dazu, dass das Taxi, oder was von ihm übrig war, durch eine geheime, unsichtbare Maschinerie bewegt und gerüttelt wurde.

      Vater deutete auf den Mann mit einer Art Fotoapparat vor dem Gesicht, der vor der Szene stand.

      „Siehst du, der Kameramann fängt die Bilder ein, bannt sie auf Zelluloid, und daraus wird dann ein Film, den alle Leute in den Kinos sehen können.“

      Was Dora sich nicht vorstellen konnte, war, wie die Bilder in die Kinos gelangen sollten. ‚Flogen sie durch die Luft? Wurden sie in Koffern hingetragen?‘ Es war ein Rätsel, aber sie getraute sich nicht zu fragen.

      Irgendein Zauber musste hinter der ganzen Sache stecken und Dora war begeistert, dass ihr Vater in diese Abläufe eingebunden war. In diesem Moment bewunderte sie ihn.

      Dora war nun überzeugt, dass Filme herstellen eine unglaublich wunderbare Sache sei. Sie schwieg, schaute zu, vergaß zu reden. Wollte, dass niemals aufhörte, was sie sah.

      Daheim sagte ihr Vater:

      „Jetzt habt ihr einmal hinter die Kulissen geschaut. Jetzt wisst ihr, wie viel Arbeit es ist, einen Film zu drehen.“

      Dora wusste nicht, wieso es ‚drehen‘ hieß, aber das war ihr egal. Ihre Wangen glühten, ihre Augen funkelten, als sie ihrem Vater verriet:

      „Ich will einmal zum Film!“

      „Sag das ja nicht deiner Mutter“, war seine warnende Antwort.

      Also beschloss Dora, zunächst einmal die Schule zu beenden und dann Filmschauspielerin zu werden. Das sagte sie aber nicht Mutti und auch sonst niemandem. Sie würde eines Tages auch auf diesem Rosenhügel vor der Kamera sitzen, stehen, tanzen, lachen. Ein prächtiges Kleid würde sie tragen, aus Brokat, aus Seide, mit Goldschmuck. Und ein unsichtbarer Geist würde die Bilder hoch über der Stadt in die Kinos wehen.

      In der Nacht träumte sie, sie selbst wäre die edelsteinbesetzte Lady, die sie heute gesehen hatte. Ihre Schwester musste als der sie begleitende Gentleman herhalten. Zumindest im Traum.

      Die Russen

      Dora war acht,

      als die Russen abzogen.

      Vor ein, zwei Jahren war sie sich noch sicher gewesen. Die Russen, das waren in Salzwasser eingelegte Heringe mit viel Zwiebeln. Bis sie erfahren hatte, dass es Männer aus dem Osten waren, die das Land besetzten. Wenn sie das tun, die Russen, dann darf sich kein anderer dorthin setzen. Also gut, es waren Männer aus dem Osten, meist in grauen Uniformen.

      Als fünf- oder sechsjährige hatte sie gedacht, dass ihre um vier Jahre ältere Schwester etwas Besonderes sein musste, denn die russischen Besatzungssoldaten lächelten das blondzopfige Mädel wohlwollend an. Es war besser für Dora, die statt Zöpfen nur braune Borsten hatte, in der Nähe der Schwester zu bleiben. Die Russen mochten Kinder, hieß es, aber sie vergewaltigten auch Frauen. Dora wusste nicht, was das Wort ‚Vergewaltigung‘ bedeutete, und auf ihre Fragen hörte sie nur:

      „Das verstehst du nicht.“

      Es musste etwas Bedrohliches, Gefährliches sein, das las Dora in den Mienen der Erwachsenen.

      Mit ihrer Schwester fühlte sie sich sicher, Dora war ja erst acht.

      An einem Sonntag im Mai saß Dora auf Papas Schultern und überragte die dichte brodelnde Menschenmenge auf dem Wiener Rathausplatz. Viele schwenkten kleine Fähnchen in der Hand. Rot – Weiß – Rot. Dora hatte eine recht gute Aussicht da oben auf Papas Schultern, und sie fühlte sich wohl, trotz der Menschenmenge.

      „Vorne ist das Rathaus“, erklärte Vati ihr.

      Es war Mai 1955, und die Menschen feierten ‚Staatsvertrag‘, was immer das war. Sie verstand es nicht. ‚Wieder so ein Wort …‘, dachte Dora. Dass auch die Russen jetzt abzogen, hatte sie irgendwo aufgeschnappt.

      Sie verstand nicht, warum die Russen jetzt Wien verließen, sie waren doch immer nett zu ihr und ihrer Schwester gewesen. ‚Warum also?‘ Aber die Menschen neben und unter ihr schienen den Tag zu genießen. Viele weinten, Dora hätte sie gerne getröstet, bis sie begriff, dass es Freudentränen waren.

      Später, vor dem Einschlafen im Bett, musste Dora an Maria denken. Maria war wie sie selbst acht Jahre alt und wohnte in einem der Nachbarhäuser. Ihr Gesicht war fürchterlich entstellt, denn ihre Mutter hatte versucht, den Fötus mit einer Stricknadel abzutreiben. Ein Russenkind, entstanden aus einer Vergewaltigung, lebte jetzt mit entstelltem Gesicht in einem der Nachbarhäuser. ‚Ich verstehe so vieles noch nicht‘, dachte Dora. ‚Vergewaltigung‘, ‚Fötus‘, ‚abtreiben‘ – alles Worte, mit denen sie nichts anzufangen wusste. Also dachte sie lieber an die vielen Glücklichen auf dem Rathausplatz und an die Musiker, die den Donauwalzer spielten. Mit Musik kannte Dora sich schon ein wenig aus, aber mit anderen Dingen …? Sie konnte schon Sonatinen von Haydn spielen, aber ‚abtreiben‘, das konnte sie nicht.

      Als sie an diesem Freudentag eingeschlafen war, träumte sie von einem Mann in grauer Uniform, in der einen Hand eine Stricknadel, in der anderen ein Fähnchen mit den rot-weiß-roten Farbstreifen, wie sie sie am Rathausplatz gesehen hatte. Der Uniformmann lächelte Dora in ihrem Traum ruhig zu, aber von seiner Stricknadel tropfte Blut. Und er hatte hinter seinem Lächeln schwarze Zähne.

      Dora schrie in dieser Nacht. Mama kam zu ihr, um sie zu beruhigen. „So ein schöner Tag“, sagte sie, „… und du schreist. Lach doch lieber, Kind, lach doch!“

      Der 15. Mai 1955 war vorbei. ‚Gut so‘, dachte Dora.

      Der verpatzte Bub

      Dora war acht,

      als sie eigentlich ein Bub war.

      Da sie draufgängerisch und wagemutig handelte, erklärte Mama immer wieder jedem, mit dem sie über Dora redete:

      „Sie ist ein verpatzter Bub.“

      In ihrer Stimme war so etwas wie leiser Stolz zu hören.

      Ein Mädchen war also ein verpatzter