Das Einkaufen im nächsten Ort übernahm Papa. Dora, ihre Schwester Terese und Papa fuhren mit dem alten Wehrmachtsauto, das der Vater nach dem Krieg fahrtüchtig gemacht hatte, in diesen Ort. Jeden zweiten Tag.
Diesmal war alles ein bisschen anders. Papa beschloss, das Gemüse, das sie brauchten, 1 Kilo Paradeiser, diesmal beim kleinen Gemüseladen gegenüber zu kaufen und nicht in dem großen Geschäft, das sie sonst aufsuchten.
Er traf, wie in jedem Urlaub, einen Berufskollegen vom Film. Dora machte sich keine Gedanken über den Ausdruck ‚beim Film‘, auch wenn sie nicht wirklich verstand, was er bedeutete. Sie wusste nur, dass Papa ‚beim Film‘ arbeitete. Ohne recht nachzudenken.
Vor dem Gemüseladen traf Vater also einen Kollegen. Man tratschte, man lachte, den beiden Mädchen wurde es langweilig. Da meinte der Vater, dass seine Mädchen allein in den Laden gehen sollten, um die Paradeiser zu kaufen.
„Einfach so? Allein?“
Die ältere Schwester war ein wenig schüchtern und wollte den Laden nicht betreten. Dora aber öffnete mit beherztem Schwung die Ladentür, betrat den Raum und stellte sich hinten an der Warteschlange an. Ihre Schwester würde draußen auf sie warten, hatte sie gesagt. Das Geld hatte sie Dora mitgegeben.
‚Natürlich kann ich schon allein einkaufen, das ist klar‘, dachte sie, aber das mulmige Gefühl im Magen verriet ihr, dass sie ein wenig aufgeregt war. Ihr Herz klopfte etwas schneller.
Dann geschah Beunruhigendes.
Die Leute in der Warteschlange vor ihr sprachen miteinander, aber ihre Worte waren für Dora unverständlich. Sogar die Verkäuferinnen, die Paprika und Erdäpfel einpackten, redeten eine fremde Sprache. Dora wurde blass, ihr Puls stieg. Sie hatte noch nie mit Ausländern gesprochen, sie wusste nicht, wie das klang. Außerdem war doch hier nicht Ausland. Hier war Kärnten! Ausland, das war weit weg, Amerika, Afrika vielleicht.
Verstört scherte sie aus der Warteschlange aus, rannte zum Ausgang zurück, flüchtete zu ihrer Schwester.
„Die verstehen mich nicht da drinnen!“, rief sie verzweifelt.
Sie weinte haltlos. Sie verstanden sie nicht in diesem Laden, glaubte sie zumindest. Es musste furchtbar sein, in einem sogenannten Ausland zu sein und nichts zu verstehen und nicht verstanden zu werden! Schrecklich musste das sein.
Die Mädchen liefen zum tratschenden Vater, erklärten ihm das Unglück und warteten auf Erklärung. Papa lachte nur.
„Das sind Slowenen, die hier wohnen. Keine Angst, die verstehen dich, Dora. Sie sprechen slowenisch, das ist alles.“
Dora war auf der Rückfahrt sehr still. Papa hatte sie ausgelacht, das war kränkend. Eines aber hatte dieses Missgeschick bewirkt. Dora begann, über Sprache und Wörter nachzudenken, aber sie verschob die genaue Auseinandersetzung auf später, wenn sie größer sein würde.
Omas Geschichten
Dora war sechs,
als sie Oma lauschte.
Einmal im Monat besuchte Doras Familie die Großmutter, Vaters Mutter. Auch der Großvater war meistens dabei. Er war Dora fremd.
Was Oma auszeichnete, war ihre unglaubliche Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, selbst erfundene Märchen, von Riesen, Zwergen, Palästen. Wenn Dora sie bat, eine Geschichte zum Wort ‚Katzengold‘ zu erfinden, dann wusste Oma sofort, dass die Kratergräben auf der Marsoberfläche eigentlich Katzengoldadern waren, die sich alle 700 Jahre verbreitern und auseinanderbrechen, und dann quellen da alle möglichen Gestalten hervor: Feen in Organza, Zwerge in Samt, mit verzauberten langen Nasen, Elevinnen in türkisfarbenen Tutus. Und dann tanzten in Omas Geschichten diese Gestalten zu Flöten- und Gambenmusik.
Dora befand sich mitten in diesem Tanz. Sie tanzte mit den Feen, mit den Zwergen. Besonders die Elevinnen in ihren schimmernden, hellgrünen Kleidern hatten es ihr angetan. Sie hatte selbst ja solch ein Kleid daheim, mit Rüschen und hellgrünen Volants. In diesem Kleid wollte sie doch schon so oft vom Balkon aus in die Weite fliegen, bis zur Sonne oder bis zum Mars mit seinen Katzengoldadern, vielleicht bis zum Neptun, dem Meeresgott. Dora kannte sich aus in der griechischen und römischen Sagenwelt. Da machte ihr niemand etwas vor.
Die besten Geschichten waren die, in denen silberne Paläste mit goldenen Fensterrahmen vorkamen. Und manchmal auch Prinzen, die in diesen Palästen wohnten, mit goldenen Haaren, farblich verwandt mit den Fensterrahmen. Alles funkelte, auch die Gesichter der edlen Prinzen.
Natürlich wusste Dora ganz genau, dass Oma diese Geschichten nicht gelesen hatte, sondern sie allesamt erfand. Nichts war real, das wusste sie, und obwohl sie schon sechs war, also nach Mamas Ansicht ein großes Mädchen, mochte sie diese Spiele mit der Großmutter. Ihre Schwester war wohl schon zu alt für solche Märchen. Sie saß mit Opa und den anderen im getäfelten Esszimmer der alten Villa und hörte dem realen Tratsch des letzten Monats zu.
Dora aber saß mit Oma im Nebenzimmer und lauschte den wunderbaren Erzählungen über türkisfarbene Tutus und goldhaarige Prinzen. In ihrem Kopf vermischte sich das von Oma Geschilderte mit ihrer eigenen Phantasiewelt. Sie vergaß, dass sie mit ihrer Familie nur auf Besuch hier war, und sie vergaß die Zeit. Die Zeit existierte nicht mehr. Es war wunderbar.
Dora genoss diese kostbaren Stunden mit der Märchenoma.
Ihrer großen Schwester konnte sie von all dem nichts erzählen, die würde sie auslachen und sagen: ‚Kinderkram‘.
Daheim hatte Dora eine alte Holzkiste voller Glitzerzeug und Tüllkleidern. Masken, Federboas, goldene Reifen und Perlenketten aus Glas besaß sie. Mit all diesen Dingen verkleidete sie sich immer wieder, und dann spielte sie Theater. Es war eine Vorbereitung auf die geplante Laufbahn als Schauspielerin, dessen war Dora sich sicher. Und wenn sie spielte, dann machte die Welt rundherum einem riesengroßen Zauber Platz. Sie war Zirkusprinzessin, Seiltänzerin und Filmdiva in einem.
Und immer wieder spielte sie die Geschichten ihrer Großmutter nach. Sorgfältig darauf bedacht, die Erzählungen nicht nur zu wiederholen, sondern sie zu ergänzen und auszuweiten.
Das Feuer
Dora war sechs,
als sie Feuer kennenlernte.
Es war Winter und schon dunkel. Dora, ihre Schwester Terese und ihre Mutter waren bei Oma gewesen. Der Heimweg war nicht lang, es war kalt. Schneeflocken schwebten in der Luft.
Da sah Dora über den Häusern, in denen sie ihre geräumige Wohnung hatten, Rauch in den schwarzen Himmel steigen. Ein helleres Grau, das sich vom Nachtschwarz deutlich abhob. Es ballte sich, formte Figuren, Fetzen aus noch mehr Rauch.
„Es brennt bei uns!“, schrie Dora.
Die Mutter glaubte es nicht, versuchte zu beruhigen.
„Nein, keine Angst, das ist die Dampflok des Kurzzugs.“
Der Kurzzug fuhr den ganzen Tag zwischen der Stadt und dem Stadtrand, wo sie wohnten, hin und her, einmal elektrisch, einmal mit der Dampflok. Dora kam nicht dahinter, wann er sich elektrisch fortbewegte, also saubere Luft hinterließ, und wann er mit Dampf und Rauch alles vernebelte.
„Der Zug fährt heute elektrisch, das weiß ich!“, behauptete Dora. Und sie hatte Recht. Der Rauch musste irgendwo aus einem Haus aufsteigen und nicht vom Zug. Und er wurde immer dichter, qualmte in den Himmel, ein reißendes Tier.
Sie gingen schneller. Wurden immer stiller. Alle drei.
Als sie in die Nähe des mehrstöckigen Hauses kamen, in dem sie ganz oben wohnten, waren da schon Feuerwehren, Schaulustige, ängstliche Leute aus dem Nachbarhaus. Ein Geschrei, ein Durcheinander empfing sie.
Die Mutter überlegte und handelte schnell. Sie schickte die Töchter zurück zu Oma. Dort waren sie sicher. Sie selbst blieb zwischen all den Menschen und