Der letzte Stein. Ilse Nekut. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ilse Nekut
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783991077077
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ist zu klein, um sich später daran erinnern zu können.

      Alles, was sie in Zukunft, nach neun oder zehn Jahren, von ihrer Mutter darüber erfahren wird, das ist jetzt, mit den Schmerzen im Schenkel, ihre Gegenwart. Sie wird all das aber nicht mehr wissen, später.

      Sie fuhren ins Spital. Papa und ein Onkel, der ein Auto besaß. Dora war in eine rosa Decke gehüllt, lag auf der Rückbank des Autos, hatte hohes Fieber. Mama musste daheimbleiben. Doras große Schwester Terese war noch nicht alt genug, um allein zu Hause zu warten. Also ließ Mama die dreijährige kranke kleine Tochter im Stich, übergab sie Papa und dem Onkel. Dora, verlassen von Mama, zum ersten Mal, ohne Vorwarnung, ohne Absicht. Nur die beiden Männer kümmerten sich um sie, das war zu wenig. Sie weinte nicht einmal. Dafür war der Schock zu groß. Ohne Mama.

      Das Letzte, was Dora vor der Operation sah, war ein grün maskiertes Gesicht. Die Ärzte operierten Dora – das wird ihr ihre Mutter später einmal erzählen – an der Innenseite des Oberschenkels. Ein Schlauch musste durch zwei Öffnungen in Doras Fleisch eingezogen werden, damit der Eiter abfließen konnte.

      Nach überstandener Nacht – der Eingriff war vorbei – war sie allein, mutterseelenallein. Kein Papa, keine Mama, nur die weißen Krankenschwestern um sie herum. Dora erstarrte und sprach nicht mehr. Sie war für immer verlassen worden, dessen war sie sich ganz sicher.

      „Du hast einfach nicht mehr gesprochen, und dein Gesicht war todernst, so oft ich dich besucht habe.“

      Das wird Mama ihr später, in zehn Jahren, schildern.

      „Verzweifelt war ich. Und ich habe gedacht, dich hat jemand ausgetauscht. Daheim hast du immer geredet, ziemlich viel geredet. Eine Plaudertasche.

      Weißt du, früher mussten die Kinder im Spital allein bleiben, also auch du. Die Eltern durften nur kurz auf Besuch kommen. Heutzutage ist das schon ein wenig anders.“

      Ein paar Stunden nach der Operation, einer Ewigkeit, kam Mama ins Spital. Sie sah ihre Tochter an und erschrak. Dora musterte die Mutter mit weit aufgerissenen, erschrockenen Augen und begann dann zu schreien. Und sie schrie, bis Mama wieder weg war.

      An den Spielen der anderen kranken Kinder beteiligte sie sich nicht. Sie schwieg einfach.

      Wenn Mama kam, schrie sie.

      Wenn Mama wegging, hörte sie auf zu schreien und verstummte.

      Das wiederholte sich unzählige Male. Doras Mutter wurde beinahe verrückt vor Sorge.

      Dora war allein im Krankenhaus, von der ganzen Familie verlassen. Sie lebte im Glauben, es wäre für ihr ganzes Leben. Ein Leben lang allein. Mit Bitternis und Entsetzen verbrachte sie die Zeit im Spital.

      Eine schreckliche Zeit, für immer in sie gemeißelt.

      Später wird ihre Mutter ihr alles erzählen, und sie wird das alles zu verstehen versuchen. Aber es wird nicht viel zu verstehen geben. Sie war verlassen worden, das wird sich nicht wegreden lassen. Auch wenn ihre Mutter glauben wird, all das sei vorbei.

      Dora durfte heim. Die Wunde verheilte, die Operation war gut verlaufen.

      Gut?

      Der Unfall

      Dora war vier,

      als sie das Wort ‚Unfall‘ lernte.

      Es war abends, Dora schon im Bett. Die Oma, Mamas Mutter, auf Besuch. Die Gute-Nacht-Geschichte, heute vorgelesen von Oma, das war der Plan, ließ noch auf sich warten. Solange dieses Märchen nicht gelesen wurde, schlief Dora sicher nicht.

      Mama war ohne Papa zu Hause. Der arbeitete wieder einmal ‚beim Film‘.

      Im Vorzimmer klingelte das Telefon, es klang bedrohlich. Doras Mutter hob ab und horchte offensichtlich schweigend auf das, was man ihr sagte. Nur eine Frage konnte Dora hören:

      „Wo?“

      Danach kam Mama aufgeregt ins Kinderzimmer, hatte blasse Wangen, sprudelte die Worte in Kaskaden heraus.

      „Oma“, sagte sie zu ihrer Mutter.

      „Die Anni hat einen Unfall gehabt, eben erst!“

      Anni, das war Omas zweite Tochter, Doras Tante.

      „Was ist passiert?“

      „Sie und Hans hatten mit dem Motorrad einen Unfall, ganz in der Nähe, vor dem Konsum, keine zwei Minuten von hier. Die Polizei hat mich angerufen, die Rettung ist unterwegs.“

      Doras Mutter achtete nicht auf ihre erschrockene Tochter, sagte nur zu Oma:

      „Ich lauf da hin, du bist ja ohnehin bei den Kindern. Gut?“

      Und schon war sie verschwunden, ohne ein Wort zu Dora. Oma war nicht gesprächig, las auch keine Geschichte vor. Sie saß nur stumm und schaute ins Leere.

      „Was ist ein ‚Unfall‘?“

      „Ach, nichts Besonderes, Kind. Wahrscheinlich sind deine Tante und dein Onkel Hans mit dem Motorrad umgefallen, das passiert manchmal.“

      Omas Beruhigungsversuche waren nicht glaubwürdig, Dora sprach ihre Oma besser nicht mehr an. Sie dachte allein über den ‚Unfall‘ nach. ‚Vielleicht hieß es Umfall, nicht Unfall. Oma hatte doch so etwas angedeutet. Und wieso war von ‚Fall‘ die Rede?‘ Dora kannte einen Wasserfall, einen Überfall, sogar einen Todesfall, aber einen Motorradfall, den kannte sie nicht. Es war der erste Motorradfall in ihrem kurzen Leben, und sie war verwirrt, kannte sich nicht aus, hatte Angst um ihre verunglückte Tante, aber vor allem sorgte sie sich um ihre Mutter.

      ‚Ohne mich anzusehen, ist Mama fortgerannt, keinen Blick hat sie auf mich geworfen‘, dachte Dora entsetzt, und sie hatte eine Heidenangst, dass Mama nicht mehr wiederkommen würde. Warum sie befürchtete, dass dieser schreckliche Fall eintreten könnte, wusste sie nicht. Ihre Angst war riesengroß und füllte ihren Kopf vollständig aus.

      Von Mama verlassen zu werden, das hatte Dora schon einmal erlebt, vor zwei Jahren, aber sie erinnerte sich nicht, sie war zu klein gewesen.

      Dora litt Höllenqualen. Tante Anni und ihr Motorrad waren ihr auf einmal gleichgültig, aber ihre Mutter, ihre Mama, musste wiederkommen! Ansonsten würde sie sterben, ganz bestimmt. Auch wenn sie noch nicht so recht wusste, was ‚sterben‘ bedeutete. Dass Leute, die gestorben waren, nicht mehr da waren, plötzlich unsichtbar waren, das hatte sie schon erlebt. Aber das eigene Sterben?

      Gut eine Stunde war Mama weg gewesen, aber nicht gestorben. Auch Dora nicht. Sie lebte noch.

      Die Mutter beruhigte ihr Kind und auch Oma. Schließlich war es Omas Tochter, die da einen ‚Unfall‘ gehabt hatte.

      „Es ist nicht so schlimm, Oma“, beschwichtige Mama die Großmutter.

      „Anni hat einen gebrochenen Fuß und Abschürfungen, aber sie wird in ein gutes Spital geführt. Sie hat mir sogar durch die vielen Schaulustigen hindurch ein schwaches Lächeln gezeigt. Also keine Angst. Du kannst sie morgen besuchen.“

      Keine Angst. Die Angst Doras um ihre Mama, die Angst vor dem schrecklichen Fall des Verlassenwerdens war verschwunden. Sie war erleichtert.

      Später wird sie sich auch daran nicht erinnern.

      Oma las auf Doras Bitten hin noch eine Gute-Nacht-Geschichte, war aber nicht ganz bei der Sache.

      Dora schlief beruhigt ein und beschloss davor noch, nie mit einem Motorrad zu fahren. Ein Umfall konnte dabei ja offenbar leicht geschehen.

      Sprachverwirrung

      Dora war fünf,

      als sie nichts verstand.

      In einem heißen Sommer, zwei Jahre später, fuhren Dora und ihre Familie an einen kleinen See im südlichen Kärnten. Sie campierten dort. Ein neues Wort, Camping, hatte sich in den Sprachgebrauch der Leute eingeschlichen.

      Man campierte also.

      Für