Es bleibt bemerkenswert, wie Bibelstellen, die der Jungfräulichkeit der Gottesmutter und der Degradierung Josefs zum bloßen „Nährvater“ zu widersprechen scheinen, im Lauf der Jahrhunderte unterschiedlich gedeutet wurden. Schon die palästinensische Urgemeinde war hier offensichtlich unsicher. War Jesus nicht doch der Sohn Josefs? Paulus, der ja vor den Evangelisten schrieb, hatte ihn zwar als Sohn Gottes bezeichnet, doch sprach Markus eine Generation später schlicht vom Menschensohn. Stammt der „Sohn Davids“, wie die bei Matthäus und Lukas überlieferten Stammbäume zeigten (Mt 1,16, Lk 3,23–38), nicht über Josef von dem altisraelitischen König ab? Wurde Jesus bei Lukas als „Erstgeborener“ bezeichnet, deutete dies zudem auf weitere, „natürlich“ gezeugte Kinder Josefs und Marias hin, ebenso wenn – und das war ein besonders gewichtiges Argument – Johannes (Joh 1,45) von „Jesus, Josefs Sohn“ sprach. Im gleichen Sinn lesen wir bei Matthäus (13,55): „Ist dieser nicht der Sohn des Zimmermanns, heißt nicht seine Mutter Maria? Und seine Brüder Jakobus, Joses, Simon, Judas? Und seine Schwestern, sind sie nicht alle drei bei uns?“ Dass diese Auffassung in den frühen Christengemeinden sehr verbreitet war, ist unbestritten. Schon in der Spätantike kam allerdings die Vorstellung auf, dass die „Geschwister Jesu“ einer ersten Ehe Josefs mit einer gewissen Salome entstammten (entsprechend wurden sie mit ihrer Mutter auf zahlreichen spätgotischen Altären in die „Heilige Sippe“ eingereiht). Johannes Chrysostomos (4. Jh.) vertrat dagegen die bekanntere, von der modernen Theologie heftig bekämpfte These, dass der Begriff Brüder (ἀδελφοί) Christi sich auf seine Vettern bzw. Verwandten bezogen haben muss.17 Demgegenüber hieß es im Markusevangelium, das heute als das älteste gilt: „Ist das nicht der Zimmermann, Marias Sohn?“, während Josef unerwähnt bleibt (Mk 6,3). Wegweisend schien den Kirchenvätern einmal mehr das Alte Testament, wo Jahwe über David sagt: „Zum Erstgeborenen will ich ihn machen“ (Ps 89,28). Könnte sich dieses Attribut nicht, fragten scharfsinnige Theologen, möglicherweise vorausweisend auf Jesus, den Messias bezogen haben? War David nicht dessen berühmtester Vorfahr? Auch in Psalm 2,7 findet sich eine in diese Richtung weisende Bemerkung: „Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt“. Bezog man die Geburt Jesu auf solche Bibelstellen, verblieb Josef tatsächlich nur die Rolle als „Nährvater“. Psychologisch einfühlsam wird, was Skeptiker trösten konnte, im Matthäusevangelium berichtet, wie er selbst an der jungfräulichen Empfängnis Mariens zweifelte und sie deshalb gekränkt und enttäuscht verlassen wollte. Allein das Wort des Engels „Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, denn was in ihr geboren ist, ist vom Heiligen Geist“ (Mt 1,20) konnte ihn davon abhalten.
Spätestens seit dem 2. Jahrhundert beeinflussten nicht nur die bekannten Passagen der kanonisierten und nicht kanonisierten Evangelien, sondern auch theologische Kommentare sowie dogmatische Einflüsse die Exegese der Bibeltexte und somit die bildende Kunst. Neben Origenes und Tertullian (um 200) wäre hier besonders Augustinus (um 400) zu erwähnen, der daran erinnerte, dass Christus – wie hätte es, setzt man dessen Göttlichkeit voraus, anders sein können! – niemals durch männlich-menschliche Zeugung, sondern allein durch eine Jungfrau geboren sein konnte (Sermo 196,1). Die wichtigste Weissagung findet sich freilich in der Weihnachtsgeschichte selbst, wo der Engel Josef weiter erklärte:
Sie [Maria] wird einen Sohn gebären. Ihm sollst du den Namen Jesus geben, denn er wird sein Volk von den Sünden erlösen. Dies alles ist geschehen, damit sich erfüllte, was der Herr durch den Propheten gesagt hat: Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, einen Sohn wird sie gebären. Man wird ihm den Namen Immanuel geben, das heißt übersetzt: Gott ist mit uns. Als Josef erwachte, tat er, was der Engel des Herrn ihm befohlen hatte. (Mt 1,21–24)
Schien die Botschaft von der jungfräulichen Geburt Christi damit nicht von Gott selbst besiegelt? In der alttestamentlichen Bibelstelle (Jes 7,14), auf die sich der Engel bezog, hatte Gott dem König Ahas in einer Notsituation – er war von Feinden umringt – die von Matthäus zitierte Jungfrauengeburt geweissagt. Spätere Exegeten vermuteten hier eine irrtümliche griechische Übersetzung des hebräischen Wortes alma als „Jungfrau“ (in der Septuaginta als παρθένος und, hierauf basierend, in der Vulgata lateinisch als virgo). Alma könne nämlich, so vor allem protestantische Kritiker des 20. Jahrhunderts, auch junge Frau bedeuten. Immerhin handelte es sich bei der Jesaja-Stelle um die Ankündigung eines Wunders, das dem König Israels in einer speziellen Gefahr Rettung versprach. War nicht auch Christus, konnte man sich fragen, als wundersamer Retter erschienen? Interessanterweise umging Papst Benedikt XVI. die bis heute nicht eindeutig geklärte Frage, indem er in seiner berühmten Regensburger Rede (2006) die Septuaginta als „selbstständigen Textzeugen“ und „wichtigen Schritt der Offenbarungsgeschichte“ bezeichnete.18 Auch Justin der Märtyrer sprach schon im 2. Jahrhundert von der Jungfräulichkeit Mariens (Dialogus cum Tryphone Judaeo 100), die als „neue Eva“ den Sündenfall der „alten“ gleichsam korrigiert habe. Viele Symbole des Alten Testaments schienen auf die Jungfräulichkeit der Mutter Jesu anzuspielen, etwa die Verschlossene Pforte (Ez 44,2) oder der im Hohelied (Hld 4,2) erwähnte Hortus conclusus. Bis zum Konzil von Ephesus (431) wurde die virginitas Mariens immer wieder infrage gestellt, aber auch verteidigt. Clemens von Alexandria sah die Mutter Christi ebenfalls als Jungfrau (Stromateis VIII,16), ebenso – eine Stimme unter vielen – Gregor von Nyssa (Homilia in Cant. 13). Auch die Vorstellung einer virginitas in partu, wonach Maria nur bei der Geburt Christi Jungfrau war und später weitere Kinder bekommen haben soll, und einer virginitas post partum, die implizierte, dass sie auch danach Jungfrau blieb (etwa Origenes, Com. in Mt 10,17, Hieronymus, Ad Helv. 17, Johannes Chrysostomos, Hom. in Mt 5,2f.) spaltete die Kirchenväter. Immerhin hielt, um dieses Kapitel abzuschließen, noch der protestantische Theologe Karl Barth die Lehre von der Jungfräulichkeit Mariens für einen substantiellen Teil des christlichen Glaubens (1927). Er konnte hier sogar, was manchen überraschen mag, auf Luther und Zwingli