Inzwischen dürfte das Desinteresse an christlich-weihnachtlicher Kunst, begünstigt von einem zeitgeistgesteuerten Unverständnis für mittelalterliche und spätgotische, aber auch barocke Gemälde und Skulpturen, die Entfremdung von der Krippe weiter beschleunigt haben. Man kann sich sogar fragen, ob selbst die ironisch-distanzierte Darstellung der FAZ, was die zeitliche und lokale Verallgemeinerung angeht, nicht bereits Wunschdenken widerspiegelt. Die Erfahrung, dass das entsprechende „Basiswissen“, sehen wir von der Kernszene im Stall von Betlehem ab, aus dem religiösen Bildungskanon selbst von Kirchgängerinnen und Kirchgängern verschwunden ist, scheint in den Führungsgremien der deutschsprachigen Kirche – Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel – dazu geführt zu haben, sich hier anzupassen, d. h. zu überkommenen Weihnachts- und Krippenbräuchen im Zweifelsfall auf Distanz zu gehen.6
Angesichts dieser innerkirchlichen Vorbehalte, die einer überaus kritischen Betrachtung ästhetisch-liturgischer Traditionen Vorschub leisten, kann es kaum überraschen, wenn unsere säkular bestimmte Gesellschaft Krippen eher Verwunderung als Bewunderung entgegenbringt. Wer eine größere Krippe besitzt und zeigt (seit alters handelte es sich auch um Orte weihnachtlicher Kommunikation!), gerät für Außenstehende, d. h. die Mehrheit der Bevölkerung, rasch in den Verdacht, einem kindlich-naiven Spieltrieb zu frönen. Nicht wenige Zeitgenossen sehen sich hier mit einem exotisch erscheinenden Kunstobjekt konfrontiert, dem die meisten Menschen – Ausnahmen bestätigen die Regel – eher hilflos gegenübertreten. Kindern erklärt man die Szenerien wie antike Mythologien oder arabische Märchen, d. h. aus der Sicht distanzierter Dilettanten, die über den Dingen, aber keinesfalls für den Inhalt stehen. Auch infolge des religiös unmusikalisch, weitgehend ahistorisch und eher anti-ästhetisch geprägten Mainstreams der Gegenwartskunst ist ein kulturhistorisches oder gar religiöses Verständnis von Krippen in Westeuropa, speziell in Deutschland, schwierig geworden. Moralismus und Ästhetizismus gelten im Zweifelsfall, wie schon Thomas Mann herausgestellt hat, als fast inkompatible Gegensätze, Moralisten sehen die südliche Schwäche fürs Schöne in der Regel mit Argwohn. Thomas Mann brachte sie – zweifellos eine tendenziöse Provokation – in den „Aufzeichnungen eines Unpolitischen“ exemplarisch mit dem schwülstig-erhitzten Kunststil des expressionistischen Dichters Gabriele d’Annunzio in Verbindung, dem er die eigene, nordisch-nüchtern Variante des Begriffs „bellezza“ entgegenstellte.7 Auch die Kirchen schlagen sich hier längst ins Lager der Moralisten. Fragen wie jene nach der Epiphanie Gottes, dem großen Thema aller Weihnachtskrippen, geraten, wie es scheint, gerade dann ins Hintertreffen, wenn ästhetische Fragen berührt werden. Nietzsches kaum noch bekannte Erfahrung, dass die Schönheit von Kunstwerken selbst in einem philosophischen „Freigeist“ ein „Mitklingen der lange verstummten, ja zerrissenen metaphysischen Saite“ bewirken kann, wird verdrängt.8 Zumindest nach strenger Burckhardt’scher Observanz gilt ein solcher Kunstgenuss in der Tat als naiv.
Gestehen wir uns deshalb, wenn wir uns mit der Weihnachtskrippe beschäftigen, bei allem theologischen und kunsthistorischen Interesse, bei aller kulturhistorischen Neugier einfach einmal das Recht auf jene Unbefangenheit zu, die der Basler Gelehrte Burckhardt infrage stellte. Ohne sie wäre die Beschäftigung mit diesem Thema Stückwerk. Fest steht, dass Krippen Generationen von Westeuropäern und Südamerikanern auf einfache Weise den Zugang zum Geschehen von Betlehem vermittelt haben. Sie waren dabei nicht nur religiös-pädagogisch von Bedeutung, sondern sensibilisierten selbst einfache Menschen für künstlerische Fragen. Fast spielerisch lernte man, Volkskunst von Meisterwerken zu unterscheiden. Schon im 17. Jahrhundert sahen Kinder in Krippenfiguren aber auch eine Art geistliches Spielzeug, das sich anfassen ließ und das Geheimnis der Heiligen Nacht auf geradezu haptische Weise vermittelte. Religionspädagogisch war das keineswegs unerwünscht. Die hiermit verbundene Chance, Biblisches en miniature zu begreifen, hatten bereits die Jesuiten und andere Ordensgemeinschaften des 16. Jahrhunderts erkannt (vgl. S. 120–123). Spätestens seit dem 19. Jahrhundert wurden und werden private Krippen, zumeist ältere Sammlerstücke italienischer Herkunft, auch im protestantisch-bürgerlichen Umfeld, nicht zuletzt im Adel wegen ihrer besonderen ästhetischen und emotionalen Wirkung geschätzt. Die von Burckhardt geforderte Transformation zum musealen Objekt wurde hier früh vollzogen. Dabei standen keineswegs nur großflächige Krippenszenarien im Mittelpunkt. Auch Einzelfiguren, nicht selten von bekannten Künstlern der Renaissance und der Barockzeit hergestellt, übten dank ihrer besonderen Schönheit eine beachtliche Faszination aus. Nicht zufällig entstanden gerade gegen 1900 zahlreiche bedeutende Sammlungen, allen voran jene des Bayerischen Nationalmuseums in München, des Diözesanmuseums in der Hofburg in Brixen und des Museo di San Martino in Neapel. Wenn hier auch in der Weihnachtszeit Schulklassen oder Eltern mit ihren Kindern häufiger zu sehen sind, kann kein Zweifel daran bestehen, dass das Wissen um die Tradition der Krippen rapide schwindet. „Weihnachtsmänner“ und „Wintermärkte“ stellen eine beachtliche Konkurrenz dar und reflektieren vordergründig sogar die in der Öffentlichkeit eingeforderte religiöse und weltanschauliche Neutralität.
Dabei müsste nachdenklich stimmen, dass – wie zahlreiche Sonderausstellungen, etwa 2015 im Museum Schnütgen in Köln oder 2016/17 im Diözesanmuseum Hildesheim, aber auch persönliche Erfahrungen vieler Krippenfreunde zeigen – das Interesse an dieser Kunstgattung entgegen allen Vorurteilen durchaus erfolgreich vermittelt werden kann. Nicht nur künstlerische Spitzenwerke verfügen immer noch, auch unter jungen Menschen, über eine beachtliche Faszination. Eine Minderheit von Kunstfreunden, Sammlern oder im christlichen Brauchtum erzogenen Menschen fühlt sich hier Jahr für Jahr immer noch auf geheimnisvolle Weise angezogen. Viele engagieren sich in Krippenvereinen, Kirchengemeinden und Heimatmuseen, so dass alte und neu geschaffene Weihnachtskrippen vom Ende der Adventszeit an auch in zahlreichen Kinder- und Altenheimen, Kirchen, Klöstern und Krankenhäusern bewundert werden können. Was stilistische Fragen oder den Ankauf alter Figuren angeht, tauscht man sich wie selbstverständlich