In jener Zeit erließ Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Reichs in Steuerlisten einzutragen. Dies geschah zum ersten Mal. Damals war Quirinus Statthalter in Syrien. Da ging jeder in seine Stadt, um sich eintragen zu lassen. So zog auch Josef aus der Stadt Nazareth in Galiläa hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Betlehem heißt. Denn er war aus dem Hause und Geschlechte Davids. Er wollte sich eintragen lassen mit Maria, seiner Verlobten, die ein Kind erwartete. Als sie dort waren, kam für Maria die Zeit ihrer Niederkunft, und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war. In jener Gegend lagerten Hirten auf freiem Feld und hielten Nachtwache bei ihrer Herde. Da trat der Engel des Herrn zu ihnen, und der Glanz des Herrn umstrahlte sie. Sie fürchteten sich sehr. Der Engel aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll. Heute ist euch in der Stadt Davidas der Retter geboren, er ist der Messias, der Herr. Und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das in Windeln gewickelt in einer Krippe liegt. Und plötzlich war bei dem Engel ein großes himmlisches Heer, das Gott lobte und sprach: Ehre sei Gott in der Höhe, und Frieden auf Erden den Menschen, die guten Willens sind. Als die Engel sie verlassen hatten und in den Himmel zurückgekehrt waren, sagten die Hirten zueinander: Lasst uns nach Betlehem gehen und sehen, was uns der Herr verkünden ließ: So eilten sie hin und fanden Maria und Josef und das Kind, das in der Krippe lag. Als sie es sahen, erzählten sie, was ihnen über das Kind gesagt worden war. Und alle, die zuhörten, staunten über die Worte der Hirten. Maria aber bewahrt alles, was geschehen war, in ihrem Herzen auf und dachte darüber nach. Die Hirten aber kehrten zurück, rühmten Gott und priesen ihn für das, was sie gesehen hatten.
So vertraut diese Geschichte Generationen von Christen später erschien – in einer Zeit, wo die meisten Gläubigen, gerade auch im Judentum, das Göttliche mit der Vorstellung grenzenloser Allmacht verbanden, der man Zorn und Rache, freilich auch Gerechtigkeit und Weisheit zuordnete, musste sie im wahrsten Sinn des Wortes unglaublich erscheinen. Nicht nur dem Gott des Alten Bundes, auch den griechisch-römischen Gottheiten war man über Jahrhunderte zitternd und furchtsam entgegengetreten. Der reaktive Tremor, das „furchtsame Zittern“ – es blieb im Christentum, wie auch Blitz und Donner, für das Jüngste Gericht reserviert –, stellte eine angemessene Reaktion auf das Unbegreifliche dar, die Begegnung mit dem göttlichen Numen ließ jede Alltagserfahrung versagen. So scheinbar menschlich es in der homerischen Götterwelt zugegangen war, so dreist sich etwa Zeus seinen Geliebten genähert hatte, es war allein schon der Rahmen der Mythologie, der die geziemende Distanz garantierte. Auch Osiris war, um ein in der Antike bekanntes Beispiel anzuführen, als Sohn der Isis eine haptisch wie optisch unfassbare Gottheit geblieben, nur seinen Priestern auf mystisch-geheimnisvolle Weise zugänglich. Ebenso blieb die altbabylonische bzw. assyrische Heilige Hochzeit (ἱερός γάμος), die Vereinigung von Mensch und Gott, den Gläubigen durch Liturgie und kultische Feiern weit entrückt, zumal sie im Adyton, dem unzugänglichen Teil der Tempel, stattfand. Es war deshalb mehr als verständlich, dass viele Gelehrte skeptisch blieben, was die göttliche Natur des Kindes von Betlehem betraf. Für wie ungebührlich, ja gefährlich man den Anblick des Göttlichen hielt, zeigte exemplarisch die von Plutarch (Plutarch, Isis und Osiris C 9) überlieferte Geschichte vom Jüngling von Sais: Dieser hatte, von Neugier übermannt, im Tempel der Isis zwar die göttliche Wahrheit entschleiert, musste dafür aber sterben („Ihn trieb ein tiefer Gram zum frühen Grabe“). Schiller bearbeitete das Thema später in der bekannten Ballade, wo die Hinterfragung von Mysterien, d. h. die Suche nach dem, was die Welt zusammenhält – in der Aufklärung war sie programmatisch geworden –, überraschenderweise sehr kritisch gesehen wurde. Jan Assmann sieht den Mythos des Jünglings von Sais sogar als Vorbild der jüdischen Bilderfeindlichkeit.12
Die Hirten von Betlehem begegneten dem göttlichen Kind dagegen ohne Angst und Zittern, ja mit menschlicher Neugier, die bald in Freude umschlug. Das Mysterium tremendum (Rudolf Otto), das die Gottheiten aller Religionen auszeichnete und, kam es zur Begegnung mit Sterblichen, Schrecken hervorrief, war im christlichen Umfeld zu einem Mysterium fascinans geworden, das alle Befangenheit nahm und allein Ehrfurcht einforderte. Während der alttestamentliche Gott stets unsichtbar blieb – Mose hörte im Brennenden Dornbusch allein seine Stimme (Ex 3,4–6) und der Held Gideon sowie Manoach, der Vater Simsons, hatten schon den Anblick seines Engels für tödlich gehalten (Ri 6,22; 13,22) – lag dessen Inkarnation, sein göttlicher Sohn, nun in einer banalen Futterkrippe. Dieses Phänomen war, die frühen Theologen fanden dafür keine andere Erklärung, nur möglich geworden, weil dieser sich nach dem Willen des Vaters – gemessen an der Skala menschlicher Eitelkeiten und Hierarchien auf geradezu unerträgliche Weise – erniedrigt hatte. Nach dem Zeugnis des Origenes soll Ignatius von Antiochien sogar die Meinung vertreten haben, Gott habe durch die ärmlich-weltlichen Umstände der Geburt seines Sohnes den „Fürsten der Welt“ täuschen wollen. Wäre diesem die Göttlichkeit des Kindes bekannt gewesen, hätten satanische Mächte, folgen wir dem Autor des 2. Jahrhunderts, von Anfang an mit allen Kräften den Heilsplan Christi zu zerstören versucht (Homilie 6, 5). Taucht in manchen Krippenszenerien, für viele etwas überraschend und scheinbar unbiblisch, im Hintergrund auch der Teufel auf, entspricht dies jedenfalls nicht nur künstlerischer Fantasie, sondern uralten theologischen Überlegungen!
Was sich aus christlicher Sicht in Betlehem ereignete, war das Gegenteil von allem, was aus der Erfahrung der heidnischen, aber auch jüdischen Antike heraus – sah man von der Messiasprophezeiung (vgl. etwa Jes 7,14) einmal ab – für möglich gehalten worden war. Es war so verständlich, dass sich bei gebildeten Christen, wenn sie an die altbekannten philosophischen Narrative dachten, unwillkürlich die Vermutung aufdrängte, dass, wie etwa Apollinaris von Laodikea, der Bischof der Konzilsstadt Nikaia, um 360 schrieb, Christus nur einen Scheinleib, d. h. keine wirklich menschliche Physis besessen habe und somit in der Krippe, entgegen dem optischen Eindruck, nur über eine Natur, nämlich die göttliche, verfüge. Waren Hirten und Weise nicht einfach, vielleicht sogar durch den Willen des Vaters, durch eine „weltliche Performance“ getäuscht worden? Hatte sich Gott in Betlehem nur eine menschliche Maske übergestülpt? Seit dem 4. Jahrhundert bestimmte diese Frage, ob Christus nur Gott oder eben Gott und Mensch war, in Ost und West die innerchristliche Diskussion. Beide Positionen ließen sich mit gewichtigen Argumenten stützen. Für den monophysitischen Bischof Kyrill von Alexandrien (ca. 375–440) konnte, um eine gewichtige, in der Kirchengeschichte allerdings umstrittene Stimme zu zitieren, nur ein rein göttliches, von menschlicher Unreinheit unbeflecktes Wesen die Erlösung der Menschheit bewerkstelligen – eine menschliche Komponente hätte, so seine durchaus plausible These, die hierfür notwendige Allmacht zu sehr beeinträchtigt. Schließlich dogmatisierte das Konzil von Chalkedon (451) nach erbitterten Auseinandersetzungen die Zweinaturenlehre des Erlösers, nachdem lange Zeit die Doktrin des Monophysitismus – im Sinne einer „geistigen“ Vereinigung seiner menschlichen und göttlichen Natur (Miaphysitismus) – im Mittelpunkt der Diskussionen gestanden hatte. Der zuvor von den Konzilien von Nikaia (325) und Konstantinopel (381) entwickelte Glaubenssatz, Christus sei schon „vor allen Zeiten aus dem Vater geboren“ worden (ex patre natum ante omnia saecula) und mit ihm „eines Wesens“ (consubstantialis), wurde bestätigt. Er sei, argumentierten die Konzilsväter, „wegen uns Menschen“ zwar nach dem Willen des Vaters, doch wie Paulus im Philipperbrief betont (Phil 2,6–11), dennoch freiwillig in die Welt gekommen und „nahm durch den Heiligen Geist Fleisch an“. Wir wissen heute, dass um jeden Satz und jedes Wort gestritten wurde. Die Mehrheit der Konzilsväter war am Ende der Meinung, dass zwischen Gott und Christus substantiell kein Unterschied sei. Für diese Vorstellung hatten schon Paulus und einflussreiche Theologen wie Irenäus von Lyon (2. Jh.) plädiert. „Gott von Gott, Licht vom Lichte, wahrer Gott vom wahren Gott“ lautete deshalb eine der zentralen Passagen des Glaubensbekenntnisses. Christus habe, wie Karl Lehmann in seinem Buch „Weihnachten“ herausstellt, seine Rolle als „Licht in der Finsternis“ (vgl. etwa Joh 8,12) immer wieder betont. Dieses hochsymbolische Bild beschäftigt die Theologen bis heute.13
Die künstlerische Darstellung des Kindes in der Krippe und der Verkündigung