Die wilden Zeiten der Théra P.. Hans-Peter Vogt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans-Peter Vogt
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783942652513
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war schließlich, wenn die Situation kippte und der Onkel plötzlich selbst Opfer einer Intrige wurde, und andere sich solcher Mittel bedienten, um die Chance auf einen Zweiten reaktionären Putsch zu nutzen? Von Mama wussten sie, dass so etwas in Südamerika jederzeit möglich war. In jeder Krisensituation kriechen die Ratten sinnbildlich aus ihren Löchern, um sich zu bereichern.

      Noch während die Aktion lief, beschloss Dennis, in Zukunft Informanten und Vertrauensleute in wichtige Positionen in der Hauptstadt zu schleusen, um rechtzeitig gewarnt zu werden. Die Zukunft ihrer ganzen Stadt würde davon abhängen, aber das würde dauern. Man brauchte jetzt Informationen. Jetzt musste man handeln, und Théra erklärte sich sofort bereit dazu. Sie verfügte über einen seltenen Instinkt.

      Théra setzte sich dafür ein, dass der Onkel (mit aller Vorsicht) mehr Vertrauen verdiente. Der Onkel war es, der in diesem Land vieles ermöglicht hatte, was „ihre Familie“ in den letzten Monaten und Jahren geleistet hatte. Nach dem großen Beben und dem gewaltigen Vulkanausbruch hatte er dafür gesorgt, dass das Militär uneigennützig half. Er hatte dafür gesorgt, dass all die Studenten und Krankenschwestern kamen, um den Erdbebenopfern zu helfen. Er hatte dafür gesorgt, dass die Verwaltungen unbürokratisch halfen, und er hatte mitgeholfen, dass die in solchen Situationen unvermeidliche Korruption weit hinter dem zurückblieb, was man hätte erwarten dürfen.

      Anderswo hätte das Militär die Überlebenden vielleicht ausgeplündert, und es hätte sich an den Hilfslieferungen bereichert. Es hätte Zigarette rauchend zugesehen, wie die Menschen auf offener Strasse krepiert wären.

      Ohne die Hilfe des Militärs hätte es nach diesem Beben viel mehr Elend und Not gegeben. Es wären Seuchen ausgebrochen. Menschen hätten verhungern müssen. Théra rechnete es dem Onkel hoch an, dass er sich in dieser schwierigen Situation auf die Seite der Opfer gestellt hatte.

      Théra glaubte nicht daran, dass der Onkel seine Garden unerwartet gegen Théras Familie schicken würde. Sie schüttelte den Kopf.

      Sie sah die Besorgnis im Blick von Papa, Mama und Para. Sie verstand, was sie bedrückte, und sie beschloß, sich noch einmal einzumischen. Pubertät hin, Pubertät her. Es ging ums Überleben. Sie setzte sich sofort mit ihrer Tante in Verbindung, mit der Frau des Ministerpräsidenten. Während Dennis, Para und Alanque bereits Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, vergingen die ersten Tage nach Weihnachten jedoch ruhig und scheinbar ohne konkrete Gefahr.

      Als Théra sich zwei Tage nach diesen Vorfällen mit ihrer Tante traf, da hatte ihr diese starke Frau mit viel Geduld zugehört. Dann hatte sie Théra erklärt, dass sie mit aller Vorsicht Vertrauen in den Ministerpräsidenten haben könne. Théra hatte die Hände der Tante gehalten. Sie war in ihren Kopf gekrochen und sie hatte gesehen, dass die Tante die Wahrheit sagte. Vielleicht würde einmal eine Situation eintreten, die alles veränderte, aber im Moment schienen ihre Familie und ihr Tal sicher zu sein. Die Tante war auf ihrer Seite, und dass die Tante nicht wusste, was da geschah, das war nicht anzunehmen. Sie hatte immer das Vertrauen ihres Mannes genossen.

      Théra war beruhigt und sie teilte Papa und ihrem großen Bruder Para später mit, was sie gesehen hatte. Sie würden dennoch vorsichtig sein. Vielleicht war der Auftrag für ein Attentat auf ihre Familie ja nicht mehr zu verhindern gewesen.

      An diesem zweiten Weihnachtsfeiertag geschahen für Théra zwei wichtige Dinge.

      „Ich soll dir von meinem Mann ausrichten, dass er dir zu großem Dank verpflichtet ist“, sagte die Tante. „Durch deine Hilfe hast du einen offenen Bürgerkrieg verhindert. Es lässt sich nicht genau sagen, was passiert wäre, wenn wir deine Namensliste nicht gehabt hätten. Aber so viel ist sicher: wenn diese Leute massiv losgeschlagen hätten, dann hätte es Tausende von Toten gegeben. Mein Mann musste überraschend angreifen, um uns zu schützen. Er hat mir versichert, dass er diese Leute verschont. Er will ein Zeichen für Vertrauen setzen. In den letzten Jahren haben sich viele Indios auf die Seite meines Mannes gestellt. Wichtige Teile des Militärs halten ihm die Treue. Sie hätten sich den geplanten Putsch der ultrakonservativen Gegner nicht gefallen lassen. Das hätte in unserem Land Mord und Totschlag gegeben. Ich weiß von den Umsturzplänen an Ostern. Danach wären wir wohl alle nicht mehr am Leben, unsere gesamte Familie nicht, und auch viele unserer politischen Freunde.“

      Sie sah Théra direkt an. „Ich spreche jetzt nicht nur von der Familie meines Mannes. Ich spreche auch von deiner leiblichen Familie, schließlich sind wir durch die Heirat von Sofia und Para miteinander verwandt. Für mich bedeutet das sehr viel. Vergiss das nicht.“

      Sie fuhr fort: „Théra. Wir haben dir viel zu verdanken. Ich, mein Mann, meine Kinder, das ganze Land. Mein Mann möchte, dass du das weist. Er wird nie öffentlich Stellung dazu beziehen, weil er niemandem mitgeteilt hat, woher diese Liste stammt. Das bleibt unter uns. Aber mein Mann sagt, dass du von ihm jede Unterstützung bekommen kannst, die du dir wünschst. Es gibt jedoch ein paar Einschränkungen. Mein Mann wird sich nicht einseitig auf die Seite der Indios stellen. Er ist der Präsident aller Peruaner. Er hat gesagt, du sollst das wissen. Ich darf dir das sagen. Mit meinem Mann kannst du jetzt nicht sprechen. Er ist vorübergehend untergetaucht, zu seiner Sicherheit, und er koordiniert alle Maßnahmen von einem geheimen Ort, den nicht einmal ich kenne.“

      Nach einer Gedankenpause fügte sie hinzu: „Ich meine, er ist wirklich der Präsident aller Peruaner. Auch der Leute, die jetzt verhaftet worden sind. Wir werden sie verschonen. Wir werden ihnen die Macht und die Geldmittel entziehen. Als Freunde werden wir sie jedoch nicht gewinnen. Niemals. Da müsste schon ein Wunder geschehen.“ Sie seufzte.

      Théra nickte. Was die Tante sagte, klang für Théra sehr vernünftig. Sie atmete tief durch. „Wir werden noch oft miteinander sprechen, wenn du mir das erlaubst. Vielleicht als Tante und Nichte, vielleicht auch, weil du die First Lady bist, und ich ein kleines besorgtes Mädchen bin.“

      Die Tante lachte Théra offen an. „Egal wie du das nennst. Du bist hier immer willkommen. Vergiss nicht, ich bin deine Freundin, aber man weiß nie so genau, wo der Wind einmal herweht.“

      Dann kam das zweite wichtige Statement der Tante: „Jetzt will ich dir noch was privates sagen. Du bist ein taffes Mädchen. Aber du bist jetzt in einem Alter, wo du mit deinen Gleichaltrigen bald Probleme haben wirst. Nicht nur, weil du durch die Hormone verwirrt wirst, sondern auch, weil du etwas Besonderes bist. Ich spüre das. Du weist, dass ich meine Tochter liebe, aber es wäre schön gewesen, auch noch so eine Tochter zu haben, wie du das bist. Du sollst wissen, das du immer zu mir kommen kannst. Auch mit deinen privaten Sorgen.“

      Théra nickte, aber sie vertraute sich der Tante in der Sache Pubertät nicht an.

      Auch ihre übersinnliche Kraft konnte ihr da nicht helfen. Sie war ja gerade eine der Ursachen, dass sich Théra mit Gleichaltrigen nicht mehr auf der gleichen Wellenlänge unterhalten konnte, die sonst beste Freundinnen untereinander auszeichnet.

       6.

      Niemand, der nicht zu Théras engster Familie gehörte, hatte bemerkt, dass Théras Berliner Geschwister Eva und Nils überhaupt in Peru gewesen waren. Nicht einmal Onkel Bübchen und Moses wussten davon, obwohl die sonst in alles eingeweiht wurden, was die Familie betraf.

      Théra, Clara und die Kinder von Para waren nach der Operation in ihre kleine Stadt Théluan zurückgekehrt. Eva und Nils sprangen nach der Geheimoperation direkt nach Berlin zurück, denn auch sie hatten diese Kraft, den Raum zu überwinden, wie alle Kinder von Dennis und Para.

      Die Kinder von Dennis hatten in diesem Sommer erstmals gemeinsam und wie eine eigenständige Geheimorganisation gehandelt. Sie hatten erlebt, was das Bündeln ihrer Kräfte bewegen kann. Sie würden das nächste Mal noch organisierter und noch sicherer vorgehen. Egal, welche Aufgabe sich dann stellte.

      Sie hatten sich in Gefahr begeben und sie waren als Sieger aus der Situation hervorgegangen. Diese Erfahrung stärkte das Selbstbewusstsein.