Papa, Mama, Théras großer Bruder Para und seine Frau Sofia waren immer da gewesen, wenn Théra sie brauchte, aber jetzt fühlte Théra sogar Scheu, sie anzusprechen. Auch das war neu.
Diese Scheu verwirrte Théra noch mehr. Sie sehnte sich nach einer Geborgenheit, die ein Mädchen in diesem Alter normalerweise durch eine beste Freundin oder auch einen festen Freund erhält. Mit Papa oder Mama konnte sie darüber nicht reden.
Wer hätte das in ihrem Tal sein können? Alle diese Indios waren ihre Freunde, aber alles schien auf einmal schwierig zu sein. Sie hatte ihre Naivität verloren, ungeniert auf die Leute zuzugehen, und sie ohne Hintergedanken anzufassen. Es gab wirklich niemanden, dem Théra sich in dieser Situation hätte anvertrauen wollen. Selbst mit ihrem großen Bruder Para und mit ihrem Lieblingsonkel Moses (der da drüben in dem Hotel der Familie als Chefkoch die Zubereitung von Speisen zelebrierte), getraute sich Théra nicht über diese Vorgänge zu reden, obwohl sie zu denen sonst immer gehen konnte.
Sie litt Höllenqualen und sie zog sich ganz zurück.
2.
Etwas war anders, als bei anderen Jugendlichen in ihrem Alter. Théra hatte keinen Grund, aufsässig zu sein gegenüber der altersbedingten Authorität der Erwachsenen, so sie denn sachlich gerechtfertigt war. Sie war sprachgewandt und konnte wunderbar argumentieren. Sie machte sich Gedanken über Zusammenhänge. Sie konnte eigene Fehler erkennen, und korrigieren. Sie konnte mit Kritik umgehen, und allein mit Worten konnte sie ihre Kommunikationspartner in der Sache überzeugen.
Durch ihre spezifische Herkunft als Tochter des großen Chefs (der den Indianern als von Gott gesandt galt) war sie stets anders behandelt worden, als andere Kinder und Jugendliche. Nicht nur gleichwertig, wie das bei den Indianern der Anden üblich ist, sie wurde hoch geschätzt.
Ihre Eltern und ihr großer Halbbruder Para (der wie ein zweiter Vater zu ihr gewesen war) hatten ihr alle erdenklichen Freiheiten gelassen. Théra hatte nie erlebt, dass sie gegen ihren Willen zu etwas gezwungen worden wäre, und wenn, dann wurde sie liebevoll korrigiert oder abgelenkt. Nun ja. Es hatte stets Regeln gegeben, und Théra hatte diese Regeln längst verinnerlicht.
Bereits als kleines Kind hatte sie den Ameisen zugehört, und begriffen, dass es in jedem Staat Regeln gibt, die bestimmen, was die Aufgaben des einzelnen sind. Bei den Ameisen war das einfach, du wurdest entweder Späher, Krieger, Arbeiter oder Königin. Bei anderen Tieren war das komplizierter, etwa bei Mäusen, Andenkamelen, Adlern oder Fischschwärmen. Es gab da ein Netz aus genetisch gewachsener chemophysikalischer Energie, das solche Vorgänge steuerte, und mit jeder nach-wachsenden Zelle als Erbinformation an die Nachkommen weitergegeben wurde. Auch Bäume und Pflanzen verfügen über dieses weit verzweigte kommunikative Netz an Energie, das ihnen mitteilt, wann sie ihre Blätter entfalten, um neue Kraft zu tanken, oder wann sie in eine lebenserhaltende Starre verfallen.
Théra hatte Zugang zu diesem System aus Kommunikationstechniken, die man als genetischen Code des tierischen und pflanzlichen Lebens bezeichnen kann. Gleichzeitig war sie sich ihrer einzigartigen Macht bewußt. Ihre Kräfte erlaubten ihr nicht, sich gegen die elterliche Autorität zur Wehr zu setzen, die sie noch nie als belastend empfunden hatte. So weit ging diese neue Situation, die sich Pubertät nannte, nun doch nicht. Théra war sich im Klaren darüber, dass sie alle vor den Kopf gestoßen hätte.
Gefährlich war das auch, wenn sie ihre Kräfte mißbrauchen würde. Aber wer weiß schon, was alles passieren kann, wenn die Triebe beginnen, den Verstand zu überlagern. Das war es, was Théra bewegte, sich ganz in sich zurückzuziehen. Sie verstand nicht, was diese fremde Macht, die sich Pubertät nannte, mit ihr anstellte. Sie musste versuchen, diese Vorgänge in ihrem Körper zu ergründen, um sie anzunehmen und zu lernen, sie zu beherrschen.
3.
Noch etwas war anders, als bei anderen Jugendlichen. Die können sich in der Regel nicht vorstellen, dass ihre Eltern noch befriedigenden Sex miteinander haben, oder sie finden das voll eklig, wenn die Alten es miteinander treiben.
Vielleicht war das bei den Indianern in Théras Stadt kulturell bedingt anders als bei den spanischstämmigen Weissen, aber Théra war ein Sonderfall. Sie hatte es von klein auf gelernt, Energieströme zu lesen, Positive und Negative, Freude, Haß, Gleichgültigkeit. Sie wusste, wenn Menschen miteinander im Streit liegen, auch wenn sie das nach aussen hin zu verbergen versuchen. Sie hatte gelernt, dass ihre Eltern eine tiefe Liebe füreinander empfinden, und dass sie sich manchmal zurückziehen müssen, um diese Liebe zu pflegen und zu praktizieren. Manchmal hatte ihr großer Bruder Para, Onkel Bübchen oder Onkel Moses diese Pflegerolle übernommen, wenn Papa und Mama einmal ganz alleine sein wollten. Théra war dennoch nie ausgeschlossen worden, und als ihre Geschwister noch klein waren, hatte sie bereits die Rolle der älteren Schwester übernommen, um sich um die Geschwister zu kümmern, wenn Mama und Papa einmal für sich sein wollten. Es war ihnen allen in Fleisch und Blut übergegangen. Théra hatte ihre Geschwistern gelehrt, dass diese Form der Liebe in ihrer Familie tiefes Glück und Zufriedenheit auslöst, die sich wiederum positiv auf den Umgang der Eltern mit ihren Kindern auswirkt. Ein Sonderfall, gewiss, der vieles überflüssig macht, was andere Jugendliche von ihren Eltern trennt, oder was für sie ein mühsamer Prozess wird, auf dem Weg sich von den Eltern abzunabeln und erwachsen zu werden.
Théra war zwar in der Pubertät, aber sie brauchte diese Aufmüpfigkeit nicht, die für andere Jugendliche notwendig ist, um sich selbst zu finden. Dennoch gab es da diese Veränderung in ihren Gefühlen und in ihrer körperlichen Entwicklung zur geschlechtlichen Reife, wie bei jedem andern auch.
4.
Am 24. Dezember stellte sich urplötzlich eine neue Aufgabe, direkt in der Weihnachtsnacht, plötzlich und völlig unerwartet, und diesmal musste Théra wieder eingreifen, owohl sie gerade mit sich selbst beschäftigt war. Es ging noch einmal um das Überleben ihrer Familie. Diesmal hatte das nichts mit schicksalshaften Naturgewalten zu tun, wie einem Vulkanausbruch, sondern es hatte politische Hintergründe, und das ist in einem südamerikanischen Land nichts ungewöhnliches. Es war lange ruhig in Peru gewesen, aber jetzt war die Gefahr unmittelbar und zum Greifen nah.
Um das zu verständlich zu machen, muss ich ein wenig ausholen und die Ereignisse der letzten Monate zusammenfassen, selbst wenn ich einiges wiederhole, was im letzten Band bereits zu lesen war. Dieses Geschehen hatte ganz ursächlich mit dieser neuen Situation zu tun, die sich in der Weihnachtsnacht explosionsartig, und für alle überraschend, zur Bedrohung entwickelte.
Kapitel 2. Rückblick: Nach dem grossen Beben
1.
In den Monaten vor ihrem Zusammenbruch hatte Théra keine Zeit gehabt, um an sich selbst zu denken.
Erst war da dieses gewaltige Erdbeben, das ihre kleine Stadt erschütterte. Direkt im Anschluß ereignete sich dieser Vulkanausbruch, dessen pyroplastische Wolke die halbe Hochebene verbrannte. Die kleine Stadt, in der Théra mit ihrer Familie lebte, wurde nur einen glücklichen Umstand verschont. Fallwinde hatten diese Wolke in unbewohntes Gebiet gelenkt. Die einzige Verbindungsstraße zwischen der regionalen Haupstadt Cusco und ihrer kleinen Stadt Théluan war auf eine Breite von 1,5 Kilometern durch eine gewaltige Schlamm- und Gerölllawine verschüttet worden. Der ganze Abhang war ins Rutschen gekommen. Man hatte schweres Räumgerät einsetzen müssen, und man hatte die Strasse in diesem Abschnitt völlig neu bauen müssen, um die Versorgung der Stadt mit Lebensmitteln und Baumaterialien auf dem Landweg sicher stellen zu können. Lufttransporte mit Hubschraubern konnten nur die anfängliche Hilfe sicherstellen. Schon das war eine gewaltige logistische Meisterleistung.
Die Katastrophe hatte in der Region viele Menschenleben gekostet. In ihrer kleinen Stadt war nur durch Théras Gespür und Papas entschlossenes Eingreifen das Schlimmste verhütet worden. Der Staudamm war durch das Beben gerissen, doch der See war bereits vorher