„Nein. Bitte sei mir nicht böse, aber ich möchte heute Abend allein sein.“
„Bist du sicher?“
„Ich werde früh zu Bett gehen“, sagte Sandra, die das furchtbare Erlebnis ziemlich ausgelaugt hatte.
„Brauchst du keine Schulter, an die du dich lehnen kannst?“
„Sehr lieb von dir, aber ich komm’ schon zurecht.“
„Muss ich mir keine Sorgen um dich machen?“
„Nein, musst du nicht“, versicherte Sandra.
„Sehen wir uns morgen?“
„Ja.“
„Ich würde deine Großmutter gerne besuchen“, sagte Oliver.
„Wir besuchen sie morgen Abend gemeinsam, okay?“
„Okay. Solltest du irgendetwas brauchen …“
„Ich liebe dich“, sagte Sandra dankbar und legte auf. Sie ging wirklich früh zu Bett, nahm Baldrian zur Beruhigung und schlief rascher ein, als sie gehofft hatte. Tags darauf fühlte sie sich wesentlich besser. Ihr Optimismus stellte sich wieder ein, und sie sagte sich, dass ihre Großmutter bald wieder mit ihr im Geschäft stehen würde.
In der Mittagspause, also vierundzwanzig Stunden nach der Hundeattacke, rief Bertram Harrer, der Hundebesitzer, an. „Wie geht es Ihrer Großmutter?“
Sandra erzählte ihm, was für Folgen Bennos Überfall gehabt hatte.
„Mir tut das alles furchtbar leid“, versicherte Bertram Harrer.
„Haben Sie den Vorfall Ihrer Hundehaftpflichtversicherung gemeldet?“
„Nein“, antwortete der Mann nach kurzem Zögern.
„Wieso nicht?“ Es klang wie ein erboster Aufschrei.
„Ich habe mir die Sache noch einmal gründlich durch den Kopf gehen lassen und bin zu dem Schluss gekommen, dass Benno und mich keine Schuld trifft.“
„Das soll wohl ein Scherz sein.“
„Ganz und gar nicht“, erwiderte der Hundebesitzer.
„Gestern waren Sie anderer Meinung, sonst hätten Sie Ihren Hund nicht so verdroschen.“
„Gestern war ich aufgeregt“, sagte Bertram Harrer. „Inzwischen kann ich aber wieder klar denken. Es wäre überhaupt nichts passiert, wenn Ihre Großmutter stehen geblieben wäre.“
„Benno hat sie verfolgt.“
„Wenn jemand läuft, rennen Hunde hinterher, das ist nun mal so.“
„Benno hätte nicht rennen können, wenn Sie ihn an der Leine geführt hätten.“
„Wer ist denn so herzlos, seinen Hund die ganze Zeit an der Leine zu lassen?“, gab Harrer zurück.
In Sandra kochte die Wut. „Sie waren immerhin herzlos genug, Benno so brutal zu schlagen, dass er kläglich winselte.“
„Ich war aufgeregt, wie ich schon sagte. Ich war außer mir, sah die alte Frau auf dem Gehsteig liegen – da gingen mir die Nerven durch.“
„Hören Sie“, brauste Sandra auf, „Ihr Hund hat meiner Großmutter schweren gesundheitlichen Schaden zugefügt. Das können Sie doch nicht mit einem gleichgültigen Schulterzucken übergehen. Sagten Sie nicht vorhin, Ihnen täte das alles furchtbar leid?“
„Natürlich tut es mir leid – für Ihre Großmutter. Man hat schließlich ein Herz.“
„Was Sie nicht sagen.“
„Benno und ich waren an dem gestrigen Vorfall schuldlos“, behauptete Bertram Harrer kühl. „Niemand kann von uns verlangen, dass wir für etwas geradestehen, das wir nicht getan haben.“
„Haben Sie schon mal von fahrlässiger Körperverletzung gehört?“, fragte Sandra schneidend.
„Wollen Sie mich verklagen?“
„Wenn es sein muss, ja.“
„Damit kommen Sie nicht durch“, bemerkte Bertram Harrer überzeugt.
„Das werden wir ja sehen.“ Wütend knallte Sandra den Hörer auf den Apparat.
8. Kapitel
Als Oliver sie abholte, um mit ihr zur Wiesenhain-Klinik zu fahren, fiel ihm sofort ihre üble Laune auf. „Hast du schlechte Nachricht von der Klinik erhalten?“, erkundigte er sich vorsichtig.
Sandra erzählte ihm von Bertram Harrers Anruf.
„Der Typ hat vielleicht Nerven“, entrüstete Oliver sich. „Du musst ihn anzeigen.“
„Das habe ich gleich nach seinem Anruf getan. So billig kommt Harrer mir nicht davon. Meine Großmutter hat Anspruch auf Schadenersatz und Schmerzensgeld.“
„Sehr richtig, und dafür hat die Hundehaftpflichtversicherung aufzukommen. Dazu gibt es sie ja schließlich.“
Anette Falkenberg sah schon etwas frischer aus. Sie hing nicht mehr am Tropf, aber die Bettruhe, die Dr. Warnke der Patientin wegen der Gehirnerschütterung verordnet hatte, hatte noch Gültigkeit. Sandras Großmutter freute sich über die Blumen, die Oliver mitgebracht hatte, und sie freute sich über seinen Besuch.
„Was machen Sie denn für Sachen, Frau Falkenberg?“, sagte Oliver Wiechert lächelnd.
„Ich hätte nicht fliehen dürfen“, seufzte Anette Falkenberg. „Aber als dieser große Hund auf mich zustürmte, hakte bei mir der Verstand aus.“
„Wieso ist der Hund auf Sie zugerannt?“, fragte Oliver und stellte einen Stuhl neben den, auf den sich Sandra gesetzt hatte.
„Ich habe keine Ahnung.“
„Haben Sie ihn irgendwie gereizt?“ Oliver nahm Platz.
„Überhaupt nicht.“
„Wenn jemand so einen verrückten Hund besitzt, darf er ihn nicht frei herumlaufen lassen“, meinte Sandra rau. „Das Tier hat bestimmt nicht zum ersten Mal Leute erschreckt.“
„Wenn ich als Kind nicht von einem Hund gebissen worden wäre, hätte ich gestern nicht so sehr die Nerven verloren“, sagte Anette Falkenberg dumpf.
„Hast du den neuerlichen Schock inzwischen einigermaßen überwunden?“, fragte Sandra.
„Einigermaßen, ja.“
„Schmerzen?“
Anette Falkenberg hob die bandagierte Linke. „Nur in der Hand.“
„Zum Glück ist sie nicht gebrochen“, sagte Sandra. Sie blieb mit Oliver Wiechert eine Stunde bei ihrer Großmutter. Davon, dass Bertram Harrer den Vorfall seiner Versicherung nicht melden wollte, erzählte sie nichts. Schließlich sollte die alte Dame sich nicht aufregen.
Aber Dr. Krautmann gegenüber erwähnte sie das empörende Verhalten des Hundebesitzers, als sie und Oliver ihm auf dem Flur begegneten, und der Klinikchef riet ihr, sich einen guten Anwalt zu nehmen.
„Ich kenne leider keinen guten Anwalt“, erwiderte Sandra. „Ich kann mir nur irgendeinen aus dem Telefonbuch raussuchen.“
Der Chefarzt empfahl ihr seinen Schwager Dr. Axel Lieskow. „Wenn er sich Ihrer Sache annimmt, ist sie in besten Händen“, sagte Florian Krautmann.
Sandra bat ihn um Dr. Lieskows Adresse.