Sie befanden sich in einem kleinen Raum hinter dem Verkaufslokal.
„Wir gehen gemeinsam“, entschied Anette Falkenberg. „Ein bisschen Bewegung schadet mir auch nicht.“
Sie verließen das Lederwarengeschäft, warfen den Brief ein und umrundeten den Block. Ihr Weg führte sie an einem kleinen, staubigen Park vorbei, aus dem plötzlich ein riesiger Hund geschossen kam.
Anette Falkenberg, die mit fünf Jahren von einem Hund gebissen worden war, geriet in Panik. Die Angst vor Hunden steckte ihr nach so vielen Jahren noch immer tief in den Knochen. Sie schrie um Hilfe, und ehe Sandra sie daran hindern konnte, lief sie davon. Ein Fehler, den sie zu bereuen hatte, denn der große Hund verfolgte sie sofort. Sie hätte ganz ruhig stehen bleiben sollen, dann wäre ihr nichts passiert. So aber jagte das Tier mit kraftvollen Sätzen hinter der Frau her, holte sie ein, sprang sie an und brachte sie zu Fall. Sandra erstarrte für wenige Sekunden zur Salzsäule.
Ein Mann kam aus dem Park gerannt. „Benno! Benno!“, brüllte er.
„Ist das Ihr Hund?“, rief Sandra außer sich vor Angst um ihre Großmutter.
„Ja. Benno, bei Fuß! Benno, hierher!“
Das Tier reagierte nicht. „Mein Gott, so tun Sie doch etwas!“, rief Sandra verstört.
„Benno, komm zu mir! Ich schlage dich windelweich, du verdammter Köter!“
Der Hund ließ von Anette Falkenberg ab. Sein Besitzer stürzte sich auf ihn und schlug ihn mit der Leine so lange, bis er kläglich winselte.
Sandra eilte schwankend zu ihrer Großmutter, die reglos auf dem Asphalt lag. „Oma … Omi…“
Der Mann verdrosch das Tier noch immer. Klatsch, klatsch, klatsch! „Herrgott noch mal, hören Sie auf, den Hund zu schlagen!“, fuhr Sandra ihn wütend an.
„Das darf der nie wieder tun! Nie wieder!“
„Wenn Sie ihn nicht von der Leine gelassen hätten, wäre das nicht passiert.“ Sandra sank neben ihrer Großmutter auf die Knie. „Omi…“ Sie berührte sie vorsichtig an der Schulter. Keine Reaktion. Sandras Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. „Omi …“ Sie drehte die alte Frau behutsam um – und hätte beinahe einen entsetzten Schrei ausgestoßen. Das Gesicht ihrer Großmutter war voller Blut. „Einen Krankenwagen“, krächzte Sandra. „Wir brauchen dringend einen Krankenwagen!“
„Ich lasse dich einschläfern, du Bastard!“, brüllte der Mann seinen Hund an.
„Wenn Sie sich nicht sofort um einen Krankenwagen kümmern, können Sie was erleben!“
Ein junger Mann war hinzugekommen. Er zückte sein Handy und telefonierte, und zehn Minuten später traf der Krankenwagen ein.
„In die Wiesenhain-Klinik“, sagte Sandra.
Sie hatte sich Name und Adresse des Hundebesitzers geben lassen. Benno war gegen alle möglichen Krankheiten geimpft, doch das war von zweitrangiger Bedeutung, denn er hatte Anette Falkenberg ja nicht gebissen.
Der Krankenwagen raste durch München. Sandra starrte die ganze Zeit auf das schlaffe, blutüberströmte Gesicht ihrer Großmutter. Sie sieht wie tot aus, dachte sie verzweifelt.
Aber der Notarzt sagte ihr, dass ihre Großmutter nur bewusstlos sei. Dennoch blieb die Angst in Sandra. Sie wurde sie einfach nicht los.
Sie erreichten die Wiesenhain-Klinik. „Der Hund ist versichert!“, hallte die Stimme des Hundebesitzers in Sandras Kopf. „Es wird alles bezahlt! Machen Sie sich keine Sorgen! Die Versicherung wird für den Schaden aufkommen …!“
Darum machte Sandra sich wirklich keine Sorgen. Sie bangte im Moment nur um das Leben der geliebten Großmutter, die – soweit sie zurückdenken konnte – immer für sie dagewesen war.
Der Rettungsarzt hatte zwar gesagt, sie wäre nur bewusstlos, aber sie sah so schrecklich leblos aus!
In der Notaufnahme der Wiesenhain-Klinik wurde sehr schnell gehandelt. Dr. Michael Warnke und eine junge Kollegin nahmen sich der Patientin unverzüglich an.
Eine dunkelhaarige schlanke Krankenschwester sprach Sandra Mut zu und versuchte sie zu beruhigen. Sandra zitterte, ihr Herz raste, und ihre Augen schwammen in Tränen. Ihr war, als hätte man ihr eine heimtückische Droge gegeben, die eine quälende Schreckensvision ausgelöst hatte. In den realen Ablauf der Geschehnisse schoben sich immer wieder grauenvolle Bilder, die sie zu Tode erschreckten.
Ein Pfleger rief die Schwester, die sich ihrer angenommen hatte, und dann war Sandra allein. Ab und zu ging jemand an ihr vorbei, ohne sie zu beachten. Sie ballte die Hände zu Fäusten und presste die Lippen ganz fest zusammen. Wieso kam nicht endlich jemand und sagte ihr Bescheid? Wie lange sollte diese furchtbare Folter denn noch dauern?
Warum erschien nicht endlich jemand, um sie mit einer halbwegs guten Nachricht zu erlösen? Sie sah immer wieder das blutüberströmte Gesicht ihrer Großmutter vor ihrem geistigen Auge, und die Stimme des Hundebesitzers klang dazu wie ein Hohn: „Der Hund ist versichert! Es wird alles bezahlt! Machen Sie sich keine Sorgen! Die Versicherung wird für den Schaden aufkommen …!“
Wie macht man sich keine Sorgen, wenn ein Mensch, den man liebt, blutend und reglos vor einem liegt?, fragte Sandra sich verzweifelt. Sie putzte sich die Nase und wischte sich die Tränen aus den Augen.
„Sandra?“
Sie drehte sich um und erkannte den Klinikchef. „Dr. Krautmann!“
Er kam zu ihr. „Was tun Sie hier? Ist etwas passiert?“
„Meine Großmutter wurde von einem Hund angefallen.“ Stockend erzählte sie, was sich ereignet hatte. „Ich sterbe vor Sorge um sie, doch niemand sagt mir, wie es um sie steht.“
„Ich kümmere mich darum.“ Dr. Krautmann verschwand hinter einer weißen Tür, und für Sandra ging das peinigende Warten weiter. Nach fünf Minuten erschien der Chefarzt wieder. Nasenbeinbruch, verstauchte Hand, Platzwunde an der Stirn, Gehirnerschütterung – das hatte Dr. Warnke diagnostiziert. Er hatte die Stirnwunde mit fünf Stichen genäht, und inzwischen war Anette Falkenberg wieder bei Bewusstsein, das erfuhr Sandra von Florian Krautmann.
„Darf ich zu ihr?“, fragte das junge Mädchen mit belegter Stimme.
„Aber natürlich“, nickte Dr. Krautmann.
„Ich hätte nicht auf Wiedersehen sagen sollen, als ich Ihre Klinik verließ“, seufzte Sandra.
Als sie kurz darauf neben dem Krankenbett ihrer Großmutter saß, sah diese schon beruhigender aus. Das viele Blut war weg, die Platzwunde befand sich unter weichem Mull. Ein breiter Pflasterstreifen klebte auf ihrer Nase.
Sie hing am Tropf, und Dr. Krautmann hatte gesagt, Sandra solle nicht lange bleiben und vermeiden, dass die Patientin sich aufregte.
Sandra sprach demzufolge nicht viel. Sie hielt nur die gesunde Hand der Großmutter, streichelte sie sanft und flüsterte hin und wieder tröstende Worte.
7. Kapitel
„Was ist passiert?“, fragte Oliver Wiechert am Telefon. „Von einem Hund ist deine Großmutter angefallen worden?“ Er schien es nicht glauben zu können. „Das darf nicht wahr sein. Hat der Köter sie gebissen? Ist sie schwer verletzt? Was war das denn für ein Hund?“
„Keine Ahnung“, antwortete Sandra. Sie war zu Hause, hatte Oliver angerufen, um ihm zu sagen, dass sie heute nicht ausgehen wolle. „Er war fast so groß wie ein Kalb.“
„Ein Bernhardiner?“
„Ich glaube nicht, dass man ihn nur einer Rasse zuordnen kann.“
„Was