„Aber bei Sandra fängt das Unglück an, sich zu häufen.“
„Karsten ist nicht gut für sie“, behauptete Julian. „Ihm nacheifern, ihm imponieren zu wollen, ist nicht gut für sie“, fügte er hinzu. „Und für Oliver ist es auch nicht gut. Er tut mir leid.“
„Sie bestraft ihn für das, was er getan hat“, erklärte Lisa.
„Was hat er denn getan?“, fragte Julian.
„Er war mit Dotty zusammen, während sie bei Vati in der Klinik war“, sagte Lisa. „Wir haben die beiden selbst gesehen.“
„Ich glaube nicht, dass zwischen ihnen irgendetwas vorgefallen ist, das eine so harte Strafe rechtfertigt.“
Lisa nickte finster. „Du hältst natürlich zu Oliver.“
„Und du zu Sandra.“
„Es war nicht richtig, was Oliver getan hat“, befand Lisa.
„Er hat doch nichts getan.“
„Er hat Sandra verschwiegen, dass er sich mehrmals mit Dotty getroffen hat“, sagte Lisa, „deshalb nimmt sie an, dass mehr dahintersteckt, als er zugibt.“
„Oliver ist ein anständiger Kerl, das sollte Sandra wissen.“
„Wie lange kann ein Mann anständig bleiben, wenn Dotty es auf ihn abgesehen hat?“ Lisa wirkte sehr skeptisch.
„Diese Dotty muss ja eine ganz besonders ausgekochte Person sein“, warf Melanie Krautmann ein.
„Ausgekochter als Kim?“, meldete sich Christoph zu Wort, um seine kleine Schwester ein wenig zu ärgern.
Das Nesthäkchen der Familie Krautmann warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Weißt du, was passiert, wenn du dich gegen eine Betonmauer lehnst? Die Mauer fällt um, denn der Klügere gibt nach.“
Florian Krautmann wandte sich an die Zwillinge. „Könnt ihr Sandra Falkenberg nicht dazu bringen, Karsten Rüge auf eine etwas weniger riskante Weise zu beeindrucken?“
„Wir können es ja versuchen“, meinte Julian ohne große Hoffnung, „aber ich glaube nicht, dass es viel Sinn haben wird. Sie ist irgendwie – durchgedreht. Seit sie diese Beziehungspause eingelegt hat, ist sie nicht mehr dieselbe. Die Trennung von Oliver tut ihr nicht gut. Sie fühlt sich bestimmt sehr mies, und um dieses unangenehme Gefühl zu unterdrücken, stellt sie die verrücktesten Dinge an. Manchmal kommt es mir so vor, als wäre sie high.“
Florian Krautmann wandte sich an Lisa. „Vielleicht nimmt sie eher einen Rat von dir an.“
Lisa nickte. „Ich werde mal mit ihr reden.“
Das tat sie tags darauf, zur Mittagszeit. Sie saßen in jenem kleinen Park, aus dem Bertram Harrers Benno geschossen war und Sandras Großmutter niedergestoßen hatte, auf einer Bank. Der Himmel über München war bleigrau.
„Sieht nach Regen aus“, stellte Sandra mit einem Blick nach oben fest.
„Wie geht es deinem Knöchel?“, erkundigte sich Lisa.
Sandra hob den Fuß und sah auf die Bandage. „Er hat mich letzte Nacht nicht schlafen lassen.“
„Jeder Extremismus hat seinen Preis.“
Sandra erwiderte mit strahlenden Augen: „Der Sprung mit Karsten war trotzdem ein Erlebnis. Den Knöchel kann man sich auch verstauchen, wenn man von einem Randstein runtersteigt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es ist, wenn man sich aus dem Flugzeug stürzt, Lisa. Es ist so – als würde man sich Gott in die Arme werfen. Im vollen Vertrauen darauf, dass er dich beschützt und sanft auf die Erde niederschweben lässt. Karsten und ich waren uns dort oben so wunderbar nahe. Er hielt mich fest. Natürlich war ich auch mit Gurten gesichert. Das waren die schönsten, erhebendsten und erfüllendsten Augenblicke meines Lebens.“
Sie übertreibt, dachte Lisa. Ihr Leben wäre bisher sehr armselig gewesen, wenn das schon das Schönste und Größte für sie gewesen wäre. Sicher, ein Fallschirmsprung wird schon etwas Besonderes sein, aber zu lieben und geliebt zu werden rangiert auf der Skala der schönen Gefühle auf jeden Fall weit darüber.
„Ich dachte zuerst, ich bring’s nicht“, erzählte Sandra. „Ehrlich, mich hätte beinahe der Mut verlassen. Aber wie hätte ich vor Karsten dagestanden, wenn ich nicht gesprungen wäre? Ich musste es tun. Ich konnte nicht mehr zurück, wollte mir Karstens Spott ersparen. Erst den Mund und dann die Hose voll. Irgendetwas in der Art hätte ich sicher von ihm zu hören bekommen.“ Sie lachte. „Im Vertrauen, mir haben ganz schön die Knie geschlottert. Aber ich habe es durchgestanden, und darauf bin ich sehr, sehr stolz.“ Sie breitete die Arme aus. „Wenn du die Angst überwunden hast, wenn du gesprungen bist, wenn du dich hineinfallen lassen hast in diese große, unendliche Freiheit, ist es nur noch schön.“
Lisa schwieg eine Weile, bevor sie fragte: „Du hast dir beim Reiten das Becken geprellt, hast dir beim Fallschirmspringen den Knöchel verstaucht – was steht als Nächstes auf dem Programm?“
Sandra hob die Schultern. „Weiß ich noch nicht.“
„Es ist schwierig – um nicht zu sagen unmöglich, mit Karsten mitzuhalten.“
„Ach was, Karsten kocht auch bloß mit Wasser.“
„Warum hörst du nicht auf damit, ihm imponieren zu wollen?“, fragte Lisa.
Sandra lachte übertrieben fröhlich. „Ich habe noch gar nicht richtig damit angefangen.“
„Du bringst dich immer wieder in Gefahr.“
„Ich finde langsam Gefallen daran, die Grenzen meiner Leistungsfähigkeit zu suchen.“
„Das kann auch mal ins Auge gehen“, warnte Lisa. „Das muss nicht immer nur mit einer Beckenprellung oder einem verstauchten Knöchel abgehen.“
„Du ahnst nicht, welch irre Gefühle solche Nervenkitzel auslösen“, sagte Sandra unbeeindruckt. „Da jagt so viel Adrenalin durch deine Adern, dass du davon völlig berauscht bist.“
Lisa schaute auf Sandras bandagierten Knöchel. „Wäre schön, wenn du in Zukunft etwas besser auf dich aufpassen würdest. Mein Vater und seine Kollegen haben auch ohne dich genug zu tun.“
„Ich werde Gymnastik machen, um besser in Form zu kommen. Meine Gelenke sind etwas eingerostet. Das erhöht die Unfallgefahr. Einem durchtrainierten Menschen passiert viel weniger. Solange ich mit – mit Oliver …“ Sie schien Probleme damit zu haben, diesen Namen in den Mund zu nehmen. „… zusammen war, habe ich in der Richtung nicht allzu viel getan, das muss ich nun nachholen.“
„Wie lange willst du Oliver noch leiden lassen?“
„Mal sehen.“
„Er liebt dich.“
Sandra lächelte ironisch. „Er liebt mich. Er liebt Dotty Simonis. Er liebt jedes hübsche Mädchen.“
„Und was empfindest du im Augenblick für ihn?“, fragte Lisa. „Ich bin dabei, mich der Umklammerung meiner übertriebenen Liebe zu entledigen. Ich war davon ja geradezu überwuchert, war von ihr regelrecht zugedeckt, konnte nichts mehr sehen, nicht mehr richtig atmen, nicht mehr klar denken. Ich möchte mich von diesem üppigen Schlinggewächs befreien und mein Auge endlich wieder für die Realität schärfen.“
„Ist Karsten Rüge denn die Realität für dich?“, erkundigte sich Lisa.
Sandra warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und stand auf. „Ich muss gehen.“
„Lass Oliver nicht länger leiden, Sandra.“ Lisa erhob sich ebenfalls.
Sandra lächelte kühl. „Hat er dich zu seiner Fürsprecherin auserkoren?“
„Nein.