24. Kapitel
„Ich finde es kindisch, wie Sandra sich benimmt“, sagte Dorothee zu Lisa. Die beiden folgten nebeneinander dem gewundenen Weg.
„Oliver hat sie enttäuscht“, meinte Lisa. „Sie hat ihm total vertraut, und er…“
„Was hat er denn schon getan? Ein bisschen spazieren gefahren ist er mit mir.“
„Während sie im Krankenhaus war.“
„Sie wollte ihn ja nicht sehen.“ Das klang trotzig.
„Weil sie während dieser Schälkur keinen besonders schönen Anblick bot.“
„Darüber hätte Oliver doch nobel hinweggesehen“, sagte Dotty. „Er ist sowieso blind vor Liebe.“
„Immer noch?“
Dotty nickte bestimmt. „Immer noch.“
„Obwohl Sandra ihn so hartherzig zappeln lässt?“
Dotty verscheuchte mit wedelnder Hand eine lästige Fliege. „Manche Menschen sind zum Leiden geboren.“
„Darf ich dir eine sehr persönliche Frage stellen?“ Lisa fand, dass die Gelegenheit dazu sehr günstig war.
„Klar“, antwortete Dorothee. „Warum nicht?“
„Hast du mit Oliver – geschlafen?“
„Nein, habe ich nicht. Wir waren nahe dran, als Sandra auf dieser Beziehungspause bestand, aber es ist dann doch nichts daraus geworden, weil Oliver Sandra einfach zu gernhat.“
„Ist doch verrückt, dass die beiden sich nicht versöhnen.“
Dotty zuckte die Schultern. „Gegen die Dummheit ist kein Kraut gewachsen.“
„Bist du noch an Oliver interessiert?“
Dotty schüttelte den Kopf. „Überhaupt nicht mehr. Sandra kann ihn gerne wiederhaben.“
„Du funkst nicht dazwischen, wenn ich versuche, die zwei wieder zusammenzubringen?“
„Mit Sicherheit nicht“, antwortete Dotty. „Wenn du willst, helfe ich dir sogar dabei.“
„Das ist ein Wort. Wir fangen am besten gleich oben in der Bärenlochhütte an.“
„Einverstanden“, sagte Dorothee Simonis, „aber wir müssen vorsichtig ans Werk gehen, denn wenn Sandra merkt, was wir vorhaben, macht sie die Schotten dicht und lässt niemanden mehr an sich heran.“
Lisa lächelte zufrieden. Sie hätte nicht gedacht, dass Dotty sich mal mit ihr verbünden würde – noch dazu zu einem solchen Zweck.
25. Kapitel
Oliver Wiechert riss entsetzt die Augen auf. „Sandra!“, brüllte er. Beinahe hätte er den Halt verloren und wäre ebenfalls abgestürzt. „O mein Gott!“
Wie ein Stein war Sandra an ihm vorbeigesaust, und das dumpfe Aufprallgeräusch, das gleich danach folgte, zerriss ihm fast das Herz.
„O nein …! Sandra! O Himmel …! Karsten! Sandra ist abgestürzt!“
Hastig kletterten sie zu der Freundin hinunter. Angst und Panik verzerrten Olivers Gesicht. Er rutschte mit dem linken Fuß ab, hielt sich mit beiden Händen an einer Felsnase fest, schürfte sich die Handrücken auf, doch das spürte er nicht. Der Schmerz, den die Sorge um Sandra in ihm freigesetzt hatte, war viel größer. „Sandra!“, stieß er krächzend hervor.
Julian Krautmann war auch schwer geschockt. Er hatte befürchtet, dass Sandra sich irgendwann übernehmen würde, gleichzeitig aber hatte er gehofft, dass es nicht dazu kommen würde.
Er hatte diese Klettertour vor allem deshalb mitgemacht, weil er sich eingebildet hatte, ein wenig auf Sandra aufpassen zu können.
Er hatte sie zurückpfeifen wollen, sobald er merkte, dass sie sich zu viel zumutete. Schutzengel hatte er spielen wollen, aber es war nicht dazu gekommen.
Das Schicksal hatte schneller und unverhoffter zugeschlagen, als er zu reagieren vermochte. Wie hatte er glauben können, Sandra Falkenberg vor Schaden bewahren zu können?
Wofür hast du dich eigentlich gehalten?, verhöhnte ihn nun eine innere Stimme, während er so rasch wie möglich zu Sandra hinunterkletterte. Sie regte sich nicht, lag auf dem Rücken, ihre Augen waren geschlossen. „Sandra!“ Oliver warf sich neben ihr auf die Knie.
„Nicht bewegen!“, rief Karsten Rüge. „Wir dürfen sie nicht bewegen. Sie kann innere Verletzungen haben.“
Julian bewies, dass er der Sohn eines Arztes war. Er legte zwei Finger auf Sandras Halsschlagader und fühlte ihren Puls. „Sie ist nur ohnmächtig“, informierte er die andern.
„Wir dürfen ihre Lage nicht verändern“, sagte Karsten noch einmal eindringlich.
„Mein Gott, wie können wir sie nur dazu bringen, dass sie zu sich kommt?“, stöhnte Oliver Wiechert verzweifelt.
„Schmeiß jetzt nicht die Nerven weg, Oliver“, sagte Karsten rau.
„Sandra!“, rief Julian Krautmann. „Sandra, hörst du mich? Sandra!“
„Sandra, bitte wach auf!“, flehte Oliver. Er sah Julian und Karsten verstört an. „Wir müssen irgendetwas tun! „Ein leiser Seufzer kam über Sandras Lippen.
„Sie – sie kommt zu sich!“, stieß Oliver Wiechert aufgewühlt hervor. „Sandra! Sandra!“
„Lass ihr Zeit“, sagte Karsten Rüge.
Julian hob den Kopf und schaute nach oben. Wie hoch mochte Sandra abgestürzt sein? Acht Meter? Zehn? Sie hätte tot sein können!
„Sandra!“, rief Oliver Wiechert unglücklich. „Sieh mich an! Sieh mich bitte, bitte an!“
Ihre Augenlider zuckten. Es schien sie unendlich viel Kraft zu kosten, sie zu heben. Ihr Blick war seltsam leer. Sie war geistig noch nicht ganz da.
„Sandra, o Sandra!“, schluchzte Oliver.
Sie musterte ihn verloren, schien seinen Schmerz und seine Verzweiflung nicht zu verstehen. „Was – ist – passiert?“, fragte sie stockend. Ihre Stimme war so leise, dass sie kaum zu hören war.
„Abgestürzt bist du“, sagte Oliver heiser. „Weißt du’s nicht?“
„Abgestürzt …“, hauchte sie.
„Hast du Schmerzen?“, fragte Karsten Rüge.
„Schmerzen?“, echote Sandra.
„Ja. Tut dir irgendetwas weh?“
Sandra schloss kurz die Augen. „Ich weiß nicht.“
„Versuch deine Beine vorsichtig zu bewegen“, verlangte Karsten.
„Ich glaube, das kann ich nicht.“
„Versuche es, Sandra.“ Karsten beobachtete ihre Beine, doch sie bewegten sich nicht. „Die Arme“, sagte er. „Versuch die Arme zu bewegen.“ Sandra gehorchte, und sie konnte die Arme heben.
„Noch mal die Beine“, sagte Karsten.
„Ich spüre meine Beine nicht“, sagte Sandra.
Oliver stieß die Luft entsetzt aus. „Wenn sie ihre Beine nicht bewegen kann, wenn sie sie nicht einmal spürt …“
„Sei still, Oliver“, zischte Karsten. Er wollte nicht, dass Sandra hörte, was Oliver vermutete – und was auch er befürchtete.
„Sie ist auf den Rücken gefallen!“, sagte Oliver mit belegter Stimme.