Aus diesen Einsichten, die heute in den Geisteswissenschaften zumindest in ihren Kernannahmen weitgehend konsensfähig sind, ergeben sich für die Kulturgeschichte weitreichende Konsequenzen. Achim Landwehr sieht nach der Erweiterung des landwirtschaftlichen Referenzrahmens auf andere Lebensbereiche eine „abermalige Übertragungsleistung“ und eine Weitung des Kulturbegriffs, der nun nicht mehr einen bestimmten Lebensbereich, sondern „das Ganze menschlichen Lebens“ umfasst. In Landwehrs Worten eröffnet Kultur „damit keine Sektoral-, sondern eine Totalperspektive, es ist kein Teil-, sondern ein Integrationsbegriff.“[31] Will die Geschichte menschliches Handeln in der Welt erklären und verstehen, so muss sie aus kulturgeschichtlicher Warte das vom Menschen selbst gesponnene Bedeutungsgewebe betrachten oder – in einer gemäßigteren Variante – zumindest mitbetrachten. Kultur ist aus dieser Sicht eben kein von Politik und Gesellschaft trennbarer Teilbereich menschlichen Tuns, sondern die Grundlage jeder Weltbeschreibung. Demnach ist die Kulturgeschichte auch keine Teildisziplin der Geschichtswissenschaft, sondern hat den Anspruch, die Historiografie insgesamt auf eine andere Grundlage zu stellen.[32]
Ute Daniel verzichtet in ihrem eloquenten „Kompendium Kulturgeschichte“ konsequent auf eine Definition von Kultur und Kulturgeschichte. Sie schreibt: „Kultur(geschichte) definieren zu wollen, ist Ausdruck des Anspruchs, trennen zu können zwischen dem, was Gegenstand von Kultur(geschichte) ist und was nicht. Ich kann mir jedoch keinen Gegenstand vorstellen, der nicht kulturgeschichtlich analysierbar wäre.“[33] Das schließt auch den Gegenstand der Mobilität (unter expliziter Einbeziehung der Kommunikation) ein, mit dem sich die Kulturgeschichte lange und intensiv beschäftigt hat. Dieses Interesse an der Bewegung von Menschen, Waren und Informationen ist auch deshalb nicht überraschend, da die Kulturgeschichte zumindest auf zwei unterschiedlichen Ebenen enge Bezüge zum Thema unterhält. Da ist einmal ihr oben skizziertes Interesse an der Bedeutung, die Menschen verschiedenen Elementen der Wirklichkeit, zu der auch die Mobilität und ihre Mittel gehören, geben. Aus dieser Sicht geht es in einer kulturhistorischen Betrachtung von Verkehr und Kommunikation zum Beispiel um die Wahrnehmung und Darstellung des Unterwegs-Seins oder von Transporttechnologien in einer Gesellschaft. Wie wurden mobile Menschen gesehen? Welche Attribute schrieb man ihnen zu? Wie wurden Technologien wie die Eisenbahn oder das Dampfschiff zu Symbolen von Fortschritt oder Völkerverständigung? Diese etwas vereinfachten Fragestellungen verweisen auf oft verfolgte kulturhistorische Erkenntnisinteressen im Bereich der Mobilität.
Darüber hinaus gibt es noch eine andere Ebene, auf der Mobilität aus kulturhistorischer Sicht hochrelevant ist. Gemeint ist die Frage, wie die Bewegung von Menschen, Waren und Informationen sich selbst auf Prozesse der Bedeutungszuschreibung und Sinnstiftung, die grundlegend auf Austausch und Kommunikation basieren, auswirkt. Wie also verändert die Tatsache, dass Menschen reisen, Waren ausgetauscht und Informationen übermittelt werden, die Bedeutungen, die bestimmte Erscheinungen in bestimmten Kulturen haben? Auch auf dieser Ebene kann man zumindest zwei unterschiedliche Fragenkomplexe erkennen. Einer dreht sich um Bedeutungsveränderungen, die im Wesentlichen aus Kulturkontakt resultieren, der wiederum durch Mobilität entsteht. Eine solche transkulturelle Perspektive will demnach wissen, wie sich unterschiedliche Bedeutungsgewebe im Kontakt miteinander verändern und neue Bedeutungen hervorbringen. Hier ist in vielerlei Hinsicht eine große Nähe zu globalgeschichtlichen Erkenntnisinteressen, die im nächsten Abschnitt vorgestellt werden, gegeben. Ein zweiter Fragenkomplex interessiert sich aus einer medienwissenschaftlichen Perspektive dafür, wie die Bewegung bzw. die Kommunikation über bestimmte Mittel sich auf die Erzeugung von Bedeutung auswirkt, also wie bestimmte Eigenschaften eines Mediums sich kulturell niederschlagen. Ein Beispiel kann die Kommunikation per Telegraf sein, die aufgrund technosozialer Bedingungen kurze, prägnante Inhalte privilegierte und sich so natürlich auf die Wahrnehmungen der Korrespondenten auswirkte.
Die Kulturgeschichte blickt also mit vielen ganz unterschiedlichen Erkenntnisinteressen auf Mobilität und Kommunikation. Ein exzellentes Beispiel für den frischen Blick der Kulturgeschichte auf das Transportwesen findet sich in Wolfgang Schivelbuschs Studie zur „Geschichte der Eisenbahnreise“, die erstmal 1977 veröffentlich wurde. Es ist kein Zufall, dass Schivelbusch im Titel seines schnell berühmt gewordenen Buches nicht von der Eisenbahn, sondern von der Reise mit selbiger spricht. Er spürt in seiner Untersuchung der neuen Reiseerfahrung nach, den durch diese Art der Fortbewegung veränderten Wahrnehmungen von Raum und Zeit. Schivelbusch zeigt in eindrucksvollen Formulierungen, wie sich der Blick des Reisenden aus der Bahn heraus auf die Landschaft wandelte. Er nennt dies mit dem der Kulturgeschichte eigenen Hang zum Prägen neuer Begriffe „panoramatisches Reisen“. Er untersucht aber auch wie die Eisenbahn zum Symbol und Inbegriff schnellen, bequemen und sicheren Reisens wurde – und wie diese Bedeutungszuschreibung durch Unfälle und Katastrophen kontrastiert wurde. Die mittlerweile mehr als vierzig Jahre alte Studie ist hervorragend gealtert und zieht mit ihren grundlegenden Fragen und ihrer fesselnden Prosa bis heute Leser in ihren Bann.[34]
Die Eisenbahn als Transportmittel spielt auch in Hartmut Rosas „Beschleunigung“ eine indirekte Rolle – als Symbol, als Verkörperung der „großen Beschleunigung“[35] in der Moderne. Der Soziologe Rosa hat mit seiner 2005 erschienenen Habilitationsschrift eine auch geschichtswissenschaftlich hochrelevante Arbeit vorgelegt, die – wie der Untertitel besagt – den Veränderungen der Zeitstrukturen in der Moderne nachspürt. Die neuen technischen Bedingungen von Transport und Kommunikation sowie die sich verändernden Mobilitätspraktiken bilden in ihrem Zusammenspiel die Grundlage für das von Rosa untersuchte Phänomen der sozialen Beschleunigung. Weder die Kulturgeschichte noch die Mobilität stehen begrifflich im Vordergrund und doch durchziehen sie wie ein roter Faden das eigentlich soziologische Gewebe dieser lesenswerten Studie.[36]
Bernhard Rieger und Dagmar Bellmann beschäftigen sich in ihren jeweiligen Arbeiten wiederum mit dem Dampfschiff als zentralem Symbol der Moderne und den verschiedenen Funktionen und Erwartungen, die mit ihm verbunden waren. Rieger thematisiert in „Technology and Culture of Modernity in Britain and Germany 1890–1945“ mehrere symbolträchtige Verkehrs- und Kommunikationstechnologien, darunter eben auch die „schwimmenden Paläste“. Er fragt dabei vor allem danach, wie immer größere und prächtiger ausgestattete Dampfer zu „modernen Wundern“, zu Symbolen des Fortschritts, aber auch nationalen Stolzes wurden.[37] Bellmann nimmt den Topos der schwimmenden Paläste im Titel ihres Buches auf, fügt aber noch den Gegenbegriff des Höllengefährts hinzu. Sie konstatiert am Beispiel der Atlantiküberquerungen in ihrem Beobachtungszeitraum einen Wandel in der Wahrnehmung der Dampfschifffahrt von etwas Unbequemen und Gefährlichem zu etwas Luxuriösem, Sicherem.[38]
Schon anhand dieser wenigen Beispiele wird deutlich, welche wertvollen neuen Sichtweisen und Blickwinkel die jüngere Kulturgeschichte einer traditionell eher technik- und wirtschaftshistorisch inspirierten Beschäftigung mit Mobilität eröffnet haben. Die Globalgeschichte wiederum baut auf vielen kulturgeschichtlichen Erkenntnissen, zum Beispiel im Bereich der transkulturellen Geschichte[39], auf und stellt entsprechend abgewandelte Fragen an den Gegenstand.
[24] Burke, Kulturgeschichte, S. 9.
[25] Landwehr, S. 11.
[26] Ebd., S. 8.
[27] Newton.
[28] Thompson.
[29] Burke, Kulturgeschichte, S. 15‒32.