2. Das Argument der defizienten Erfahrung im Erstspracherwerb: Wie kann ein Kind Sätze produzieren, die es noch nie zuvor gehört hat? Der Spracherwerb kann nicht aus dem Dateninput begründet werden. Deshalb verfügt das Kind »über eine angeborene Theorie potentieller struktureller Beschreibungen« (Chomsky 1978: 49), es kommt mit bestimmten angeborenen grammatischen Prinzipien auf die Welt. Das Problem, das hier formuliert wird, ist bekannt als ›Platons Problem‹1. Chomsky wendet sich vehement gegen das Tabula-Rasa-Argument der Behavioristen und hier insbesondere gegen den amerikanischen Psychologen Burrhus Frederic Skinner (1904–1990), nach dem der Spracherwerb allein über den Dateninput und Sprache über die beobachtbaren Veränderungen in konkreten sprachlichen Situationen zu begründen sei. Bereits der Philosoph und Namensgeber meiner Universität Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) hatte argumentiert: Die »Tabula Rasa […] ist meines Erachtens nur eine Fiktion, die die Natur nicht zulässt« (Leibniz 2000: 99). Und: »Hinsichtlich des Satzes ›das Viereck ist kein Kreis‹ kann man aber sagen, er sei eingeboren, denn bei seiner Betrachtung vollzieht man eine Subsumption oder Anwendung des Prinzips des Widerspruchs auf das, was der Verstand selbst bereit stellt, sobald man sich zu Bewußtsein bringt, daß diese eingeborenen Ideen unverträgliche Begriffe in sich schließen« (Leibniz 2000: 37). Denn schließlich – so widerspricht Leibniz John Lockes (1632–1704) empiristischer Position: ›Es ist nichts im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war, ausgenommen der Verstand selbst‹ (»Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, excipe: nisi ipse intellectus«, Leibniz 2000: 103).
Chomskys Programm der Sprachwissenschaft und seine Sprachtheorie haben zum Gegenstand das Verhältnis von Sprache und Kognition, von Sprache und Spracherwerb, Mechanismen der Spracherzeugung. Chomsky versteht Linguistik (zunächst) »als den Teil der Psychologie, der sich auf einen spezifischen kognitiven Bereich und ein spezifisches geistiges Vermögen konzentriert, nämlich auf das Sprachvermögen« (Chomsky 1981a: 11–12). Chomskys Programm wird in der sog. Universalgrammatik (UG) ausgeweitet und biologisch fundiert (s. auch Kap. 74).
5 Theorie und Empirie in der Sprachwissenschaft
Theorie und Empirie werden nicht nur in der Sprachwissenschaft als komplementäre Gegensätze begriffen. Komplementär insofern, als es keine Theorie ohne Bezug auf sprachliche Daten und keine Empirie ohne theoretische Vorannahmen gibt (bzw. geben sollte); gegensätzlich insofern, als die Forschungsgegenstände und -richtungen sehr unterschiedlich sind. Während es in den Naturwissenschaften jedoch selbstverständlich ist, dass Theoretiker und Empiriker in einem permanenten Austauschprozess stehen und dass eine Theorie einer experimentellen Prüfung standzuhalten hat, ist dies in den Sprachwissenschaften keineswegs so. Für viele Theoretiker ist das ›Stochern‹ in sprachlichen Daten relativ nutzlos und nur insofern wichtig, als die Empiriker einige, möglichst in die Theorie passende Belege bringen. Für viele Empiriker sind die Theoretiker intellektuelle Spinner, deren Phantastereien mit der sprachlichen Realität nichts mehr zu tun haben. Ein schönes, weil anschauliches Beispiel für Letzteres sind die Ausführungen des ›Dschungellinguisten‹ Daniel Everett, der bei den Pirahã-Indianern am Amazonas Feldforschung betrieben und darüber ein lesenswertes Buch geschrieben hat, in dem auch auf über einhundert Seiten auf die Sprache der Pirahã (sprich: Pidahan) eingegangen wird. In diesem Zusammenhang wendet er sich gegen Chomskys generative Grammatik (s. Kap. 4), dessen »Theorie in Wirklichkeit über die Pirahã-Sprache wenig Erhellendes beizutragen hat« (Everett 2010: 291). Anstelle eines »geradezu religiösen und ein wenig mystischen Dualismus, der den Arbeiten von Descartes und nach manchen Lesarten auch der Theorie von Chomsky zugrunde liegt, möchte ich eine konkrete Sichtweise auf die Sprache vorschlagen. […] Man sollte sich bemühen, Sprache in einer Situation zu verstehen, die dem ursprünglichen kulturellen Zusammenhang so nahe wie möglich kommt. Wenn ich damit auf der richtigen Spur bin, kann man linguistische Feldforschung nicht getrennt vom kulturellen Zusammenhang betreiben« (ebd. S. 358).
Everett wirft dem ›Schreibtischlinguisten‹ Chomsky u.a. vor, dass sein Grundansatz der Universalgrammatik (UG) im Hinblick auf den seiner Meinung nach notwendigen Zusammenhang von Sprache und Kultur fehl gehe, dass nichts Interessantes und Wissenswertes über Sprache erfahren werden könne. Hier ist ein Konflikt aktualisiert, der eine lange Tradition hat und der mit den Gegensatzpaaren Theorie – Empirie, wissenschaftlicher Realismus – Phänomenalismus, Rationalismus – Empirismus umrissen ist. Grundlegend ist eine unterschiedliche Auffassung zu den Aufgaben der Sprachwissenschaft und im Hinblick auf den Gegenstandsbereich. Rückt Chomsky das Sprachwissen, die Fähigkeit zu sprechen, in den Vordergrund, so Everett die sprachlichen Ausdrücke im kulturellen Kontext. Welchem Ansatz man folgt, ist in der Tat eine Glaubensfrage, aber: Everett macht es sich zu leicht, wenn er die Karte der Empirie zieht und glaubt, damit einen Trumpf gegen die Theorie ausspielen zu können.
In seinen Untersuchungen stellte Everett fest, dass es in der Sprache der Pirahã keine Rekursivität gibt. Rekursivität bezeichnet die Eigenschaft, mit einem endlichen Inventar an Grundelementen und Regeln unendlich viele Strukturen erzeugen können. Mit einer rekursiven Regel können Sätze mit unendlich vielen eingebetteten Sätzen erzeugt werden, z. B. Torsten denkt, dass Chomsky meint, dass Decartes ein großer Philosoph war. Da nun rekursive Strukturen in der Pirahã-Sprache nicht vorkommen, Rekursivität aber von Chomsky selbst als ein zentraler Baustein menschlicher Sprachfähigkeit und seiner Universalgrammatik (UG) gesehen wird (s. auch Kap. 4), sei die Theorie falsch. Nun zeigen Nevins et al. (2007), dass auch in der Pirahã-Sprache Rekursivität vorkommt, was Everett wiederum bestreitet (mich allerdings überzeugen die Argumente von Nevins et al.). Wir wollen aber annehmen, dass Everett Recht hat und es tatsächlich keine rekursiven Strukturen in der Sprache der Pirahã gibt. Was bedeutet dies für Chomskys Theorie, die eine wohldefinierte und komplexe Grammatiktheorie darstellt? Wir können argumentieren, dass die Theorie (T) falsifiziert ist und somit durch eine andere, neue Theorie (T’) zu ersetzen ist. Nun zeigt sich in allen anderen Sprachen, dass diese über rekursive Strukturen verfügen. Von T’ werden wir erwarten, dass sie die empirischen Erfolge von T ebenso umfasst wie das neue empirische Faktum. Im Hinblick auf Rekursivität muss T’ auf T reduzierbar sein und zusätzlich das Phänomen der Nicht-Rekursivität umfassen. Everett schlägt nun folgendes Erklärungsprinzip vor: »Eine Erklärung dafür, warum es im Pirahã keine eingebetteten Sätze gibt, bietet das umfassende Prinzip des unmittelbaren Erlebens (immediacy of experience principle, IEP)« (Everett 2010: 345). Kurz und vereinfach gesagt: Einbettung, Rekursivität tritt wegen der konkreten Lebensumstände und der damit verbundenen unmittelbaren Erfahrung der Pirahã nicht auf, ist nicht notwendig. Nehmen wir auch hier an, Everett hat Recht, dass IEP gilt (was ich in der Form und grundsätzlich bezweifle). Dieses Prinzip ›erklärte‹ dann zwar Nicht-Rekursivität in der Pirahã-Sprache, sagt aber nichts aus über Rekursivität in anderen Sprachen. Eine Theorie, die der UG überlegen wäre, folgt daraus überhaupt nicht. Eher würde man eine zweite Strategie verfolgen: Wenn die UG sich in so vielen Fällen bewährt, dann stellt sich die Frage, warum in dem einen nicht. Man könnte eine Ausnahmeregel formulieren, so könnte das IEP andere Prinzipien außer Kraft setzen. Die modifizierte Theorie T’ umfasste dann die Fälle von Rekursivität und den Fall von Nicht-Rekursivität. T wäre dann in T’ enthalten, wobei durch T’ alte und neue empirische Befunde erklärt werden könnten.
Das ›Prinzip des unmittelbaren Erlebens‹ (IEP) leuchtet intuitiv ein, dennoch hatte ich gesagt, dass ich es in dieser Form bezweifle. Das, was ich stark bezweifle, hängt mit dem Begriff ›Erklärung‹ zusammen. Everett argumentiert, das IEP sei die Ursache für Nicht-Rekursivität, und er führt dies an weiteren Beispielen aus. Das zugrunde liegende Argumentationsschema setzt stillschweigend voraus, dass es normalerweise Sprachen mit Rekursivität gibt und dass das Pirahã von der Norm abweicht und für dieses Abweichen eine Begründung zu finden sei. Dies ist ein uns im Alltag vertrautes