Seit Platon und Aristoteles werden Fragen zur Sprache und zur Sprachphilosophie mehr oder weniger intensiv und systematisch diskutiert. Doch erst seit dem 19. Jahrhundert und im Zusammenhang mit der vergleichenden Sprachwissenschaft ist die Sprachwissenschaft eine autonome Wissenschaft, heute mit vielen Subdisziplinen (Sozio-, Psycholinguistik, Sprachtypologie, Computerlinguistik, Dialektologie, Klinische Linguistik usw.).
4 Wer ist der berühmteste Sprachwissenschaftler und was ist sein Programm?
Wenn es um Superlative geht, kann man sich immer streiten. Dennoch: Der bedeutendste und einflussreichste Sprachwissenschaftler der Gegenwart ist Noam Chomsky, der zu den weltweit meistzitierten Wissenschaftlern zählt. Dies nicht nur wegen seiner sprachwissenschaftlichen und sprachphilosophischen Arbeiten, sondern auch wegen seiner zahlreichen politischen und medienkritischen Schriften. Er gilt als kritischer Intellektueller, dessen Meinungen weltweit gefragt sind, die New York Times Book Review nannte ihn den wichtigsten Intellektuellen der Gegenwart.
Noam Chomsky wurde am 7. Dezember 1928 in Philadelphia (Pennsylvania) geboren. Die Erstsprache seiner Eltern war Jiddisch, im Elternhaus wurde aber nur Englisch gesprochen. Nach der Graduierung an der Central High School of Philadelphia begann Chomsky 1945 Linguistik und Philosophie an der University of Pennsylvania zu studieren. Er wurde Schüler von Zellig Harris (1909–1992), bei dem er 1951 sein linguistisches Studium mit einer morphologischen Untersuchung zum Neuhebräischen abschloss. Titel der Arbeit: The Morphophonemics of Modern Hebrew. 1955 erhielt er seinen PhD in Linguistik an der University of Pennsylvania und arbeitete dann ab 1955 am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Parallel zu seinem Studium engagierte sich Chomsky in linken Bewegungen und studierte Schriften zum Anarchismus (Rudolf Rocker), demokratischen Sozialismus (George Orwell) und Marxismus (Karl Liebknecht, Karl Korsch und Rosa Luxemburg).
Abb.1: Noam Chomsky
Chomsky ist der Gründungsvater der so genannten ›Generativen Linguistik‹ und speziell der ›Generativen Grammatik‹. Der Paradigmenwechsel von der strukturalistischen Sprachwissenschaft zur generativen wird durch ein schmales Bändchen mit dem Titel Syntactic Strutures (Chomsky 1957) eingeleitet.
Was ist das wissenschaftliche Verdienst Chomskys? Was versteht man unter Generativismus und speziell unter generativer Grammatik? Es sind zunächst zwei Grundannahmen, die für die generative Grammatik konstitutiv sind. Zum einen werden den sprachlichen Strukturen Ableitungsmechanismen zugrunde gelegt, die über Regeln, die sich als Algorithmen fassen lassen, definiert werden können. Ziel ist es, in einer Menge von Sätzen grammatische Strukturen von umgrammatischen zu scheiden:
»From now on I will consider a language to be a set of (finite or infinite) sentences, each finite in length and constructed out of a finite set of elements. […] The fundamental aim in the linguistic analysis of a language L is to separate the grammatical sequences which are the sentences of L from the ungrammatical sequences which are not sentences of L and to study the structure of the grammatical sequences. The grammar of L will thus be a device that generates all of the grammatical sequences of L and none of the ungrammatical ones« (Chomsky 1957: 13).
Von jetzt an werde ich unter einer Sprache S eine (endliche oder unendliche) Menge von Sätzen verstehen, jeder endlich in seiner Länge und konstruiert aus einer endlichen Menge von Elementen. […] Das grundsätzliche Ziel bei der Analyse einer Sprache S ist es, die grammatischen Folgen, die Sätze von S sind, von den ungrammatischen Folgen, die nicht Sätze von S sind, zu unterscheiden und ihre Strukturen zu analysieren. Die Grammatik von S wird deshalb eine Anweisung sein, die die grammatischen Folgen von S generiert/erzeugt und keine der ungrammatischen.
Zum Zweiten führt Chomsky die grundlegende Unterscheidung in Kompetenz und Performanz ein. Sprachkompetenz ist »die Kenntnis des Sprecher-Hörers von seiner Sprache« (Chomsky 1978: 14), Sprachverwendung, sprachliche Performanz »der aktuelle Gebrauch von Sprache in konkreten Situationen« (ebd.). Damit ist die sog. mentalistische Sprachauffassung begründet, da eine Sprachtheorie um »die Aufdeckung einer mentalen Realität, die dem aktuellen Verhalten zugrunde liegt, bemüht ist« (ebd.). Mentalistische Linguistik ist also theoretische Linguistik, »die Daten aus der Sprachverwendung […] benutzt, um die Sprach-Kompetenz zu bestimmen, wobei Letztere als der primäre Untersuchungsgegenstand zu bestimmen ist« (ebd., S. 241). Mit dem Kompetenzbegriff bezieht sich Chomsky sprachphilosophisch auf Ideen des Begründers der vergleichenden Sprachforschung Wilhelm von Humboldt (1867–1835). Für von Humboldt ist »Sprache […] das bildende Organ des Denkens« (1973: 45) und »nichts anderes, als das Komplement des Denkens […]« ( ebd., S. 8). Indem Sprache und Denken komplementär aufeinander bezogen werden, bilden Sprachen das Fundament für die Geistestätigkeit. Der Begriff der ›Energeia‹ im Kontrast zum ›Ergon‹ reflektiert diesen Zusammenhang: »Die Sprache ist kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia). […] Sie ist nämlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedankens zu machen« (ebd., S. 36).
Wilhelm von Humboldt (*22.6.1767 in Potsdam, †8.4.1835 in Tegel)
Mit seinem Bruder Alexander von Privatlehrern erzogen, studierte Wilhelm von Humboldt in Frankfurt (Oder) und Göttingen neben Jura auch klassische Philologie. Er war im preußischen Staatsdienst tätig, bis er sich 1819 aus seinen Ämtern zurückzog. Neben diplomatischen Missionen hatte er von 1809 bis 1811 als Sektionsleiter für Kultus im Innenministerium entscheidenden Anteil an Bildungsreformen, die die Hochschulen in Deutschland bis in die Gegenwart geprägt haben. Bei einer Reise nach Spanien 1799 weckte die Begegnung mit dem Baskischen sein Interesse an der Unterschiedlichkeit der Sprachen. Er trug eine für die damalige Zeit einzigartige Vielzahl von Quellen zu den Sprachen der Welt zusammen und entfaltete seit 1820 auf dieser Grundlage einen sprachphilosophisch fundierten Entwurf zu einer vergleichenden Sprachforschung, der aber auf die sich an den indogermanischen Sprachen orientierende historisch-vergleichende Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts kaum Einfluss hatte. Sein sprachphilosophisches Denken wirkt dennoch bis in die Gegenwart fort.
Humboldts erklärtes Ziel ist es, die »Sprachfähigkeit des Menschengeschlechts auszumessen« (1973: 14). Die Suche nach Abhängigkeiten zwischen grammatischen Phänomenen und auch die Frage nach der Wechselbeziehung zwischen Sprache und Denken spielten dabei eine Rolle – Projekte, die die heutige Sprachtypologie und ebenso die Erforschung der kognitiven Grundlagen sprachlicher Relativität und deren kulturelle Implikationen vorwegnahmen.
Rezipiert wurde Humboldt meist als Sprachphilosoph, obwohl die zitierten Schriften primär Einleitungen oder als Akademie-Vorlesungen gehaltene Vorstudien zu umfassenden Einzeldarstellungen von Sprachen sind. Berühmt ist vor allem die Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschen betitelte Einleitung zu dem Werk Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java (1836–39), wogegen die meisten kleinen Studien zu etlichen Sprachen heute weniger bekannt sind.
Die generative Grammatik knüpft also zunächst an formalisierte, mathematische Modelle an, erweitert diese aber um eine mentalistische Fundierung, indem sprachliche Kenntnissysteme als der originäre Untersuchungsgegenstand der Linguistik definiert werden. Es sind zwei Argumente, die Chomsky immer wieder für sein Mentalismus-Programm anführt:
1. Das Argument der Kreativität: Wie ist es möglich zu erklären, dass der Mensch immer wieder neue Sätze produziert, dass mit endlichen