Was bedeutet das – eine gute Rede? Man müsste meinen, dass ein Arbeitsplatz, an dem es per definitionem nur Berufsredner geben darf, die beste Messlatte dafür ist, was gutes Reden ausmacht. Dieser Platz heißt Parlament – also „der Ort der Redner“ (von lateinisch „parlare“ = es ausreden, bereden). Wer aber je auf einer Besuchertribüne des Bundestages oder eines Landesparlamentes saß (und ich mache mir manchmal die Mühe, mit meinen Studierenden genau das zu tun), der wird erschüttert festgestellt haben: Geboten wird durchweg rhetorischer Durchschnittsfraß – der letztlich auch erklärt, warum kein Parlament der Welt es wagt, für so etwas Eintrittsgeld zu verlangen.
Werden wir deutlich: Dieser rhetorische Durchschnittsfraß begegnet uns überall; ja selbst dann, wenn ein Vorstandsvorsitzender eines DAX-Unternehmens von der Aktionärsversammlung einen Vertrag verlängert haben will, der ihm Millionen pro Jahr einbringt, oder ein Bundesminister im Parlament eine Rede hält, die zumindest in Ausschnitten Millionen Menschen abends in den Nachrichten sehen. Angesichts dieses rhetorischen Umfelds ist die Aufgabe eines guten Redners gar nicht einmal so schwer:
Seien Sie in mindestens 10 Einzelelementen Ihrer Rede besser als der durchschnittliche Redner – und man wird Sie als guten Redner einstufen. Oder auch realistischer: Begehen Sie in Ihrer Rede nur 5 Fehler weniger als der durchschnittliche Redner und setzen Sie 5 gute rhetorische Einzelelemente drauf!
Dieser Weg beginnt aber mit einem wichtigen ersten Schritt, den viele erfahrungsgemäß am Anfang nicht aussprechen – und damit auch konsequent einen Fehlschlag in Kauf nehmen. In diesem ersten Schritt geben Sie sich als Redner vor der Rede einen besonderen Auftrag (den mindestens 98 von 100 Abgeordneten im Bundestag vor ihrer Rede sich so eben nicht gegeben haben und daher mangels Reflexion diesen Auftrag auch nicht erfüllen können):
Sie wollen eine gute Rede halten.
Schritt 2: Die Zielgruppe und ihre Erwartungshaltung
Sie analysieren die Zielgruppe Ihrer Rede. Ob Gelegenheitsrede, Sachvortrag oder Überzeugungsrede: Die Zuhörergruppe hat in der Regel eine spezifische Zusammensetzung und eine gezielte Erwartung. Wir unterscheiden dabei im Wesentlichen 4 Zielgruppen, die sich jeweils durch ganz spezifische Eigenschaften auszeichnen, auf die der Redner unbedingt eingehen muss:
1 Privat: Der engere Familienkreis und der Freundeskreis, in dem Sie auch sehr Persönliches geschützt weitergeben können.
2 Gesellschaftsleben: Vereine, Gesellschaften, Versammlungen anlässlich bestimmter Jubiläen oder Gedenken, aber auch zufällige Gruppen wie etwa bei Sportveranstaltungen; hinzu kommen religiöse Veranstaltungen und Feiern. Das Gesellschaftsleben ist eine Fundgrube für Reden aller Arten! Neben Gelegenheitsreden kann da auch schon mal ein Sachvortrag angesagt sein, aber auch Bewerbungsreden für einen Vereinsposten kommen vor. Gute Reden sind selten, gute Redner sind daher hoch im Kurs. Aber bedenken Sie eines: Gerade hier können Sie auf keinen Fall mit dem Schutz der Vertraulichkeit des Wortes rechnen; im Gegenteil: die moderne Medienkultur bringt es mit sich, dass Sie Ihre Rede (gerade dann, wenn es garantiert nicht sein muss …) sofort auf Youtube und anderen sozialen Medien wiederfinden.
3 Beruf und Wissenschaft – und zwar über alle Fakultäten hinweg, von den Geisteswissenschaften über die Sozialwissenschaften bis hin zu Wirtschaft, Recht und Technik. Denken Sie auch hier an die enorme Vielfalt von Gruppen, die von Ihnen erfolgreiche Reden erwartet: Arbeitsgruppe, Abteilungsmeeting, Instituts- oder Fakultätsrat, Projektgruppen, Selbsthilfegruppen, Zeugniskonferenzen, Sitzungen der Geschäftsleitung, Sitzungen der Anteilseigner oder Trägergruppen der Unternehmen. Möglicherweise ist auch einmal Ihre Rede oder Ihr Beitrag bei Podiumsdiskussionen, Debatten oder Verhandlungen gefragt, oder Sie wurden gebeten, Ihre Hochschule bei einem Informationstag potenziellen neuen Studenten vorzustellen. Gute Redner haben die Chance, unmittelbar von Entscheidungsträgern wahrgenommen zu werden, was erfahrungsgemäß positiv für Fortkommen und Einkommen sein kann.
4 Politik: Denken Sie hier auf keinen Fall nur an den Bundes- oder Landtag; vergessen Sie nicht, dass diese „Krönungstempel der politischen Rede“ in der Regel nur über die sonderbare und mühselige Ochsentour erreicht werden können, die Kommunalpolitik heißt: Hier, vor Ort, werden mehr als 98 Prozent der politischen Reden gehalten! Politische Ortsvereine, Kreisverbände, Gemeinderat, kommunale Beiräte und Kreisausschüsse – nur wer hier an der Basis die „rhetorische Lufthoheit“ erringen kann, der kann auf ein Landtags- oder Bundestagsmandat hoffen. Es sind klassische Gelegenheiten, bei denen der Rhetorik-Kandidat seine Sporen verdienen muss – oder eben einsehen muss, dass das wohl nichts wird. Denn wer noch schlechter redet als Mittelmaß, wird sehr wahrscheinlich irgendwann auf der Strecke bleiben.
Die Charakterisierung der Zielgruppe ist eine eher leichte Übung – ob Freundeskreis, Fachkollegen oder politisches Plenum, die spezifische Zusammensetzung dieser Gruppen und ihre Anforderungen an den Redner erklären sich fast von selbst. Damit stecken Sie aber auch einiges ab, was den kollektiven Assoziationscode und die Sprechoptionen betrifft, die Sie bedienen sollen. Hier zeigt sich die soziale und auch neurolinguale Varianz und Sprachkompetenz des Redners am besten. Je mehr er auf die spezifischen Besonderheiten der Zuhörerschaft eingehen, sie verstehen, aufnehmen und in seiner Rede berücksichtigen kann, umso mehr wird der Redner im wahrsten Sinn des Wortes „verstanden“. Die damit zusammenhängenden Fragen hat ein Teilbereich der Psychologie, die Kommunikationspsychologie, eingehend untersucht (vgl. dazu wegweisend: Schulz von Thun u.a., Miteinander reden: Kommunikationspsychologie für Führungskräfte).
Ein Beispiel ist die Verwendung von ironischen Formulierungen oder Witzen: Was der eine Hörerkreis geradezu erwartet – und auch belohnt –, das können andere Hörergruppen im wahrsten Sinn des Wortes überhaupt nicht lustig finden. Wird der Witz in der ersten Gruppe als Demonstration der Authentizität des Redners gewertet, so wäre er in der zweiten Gruppe eine Demonstration mangelnder Diplomatie oder Genderbewusstseins (vgl. dazu Schulz von Thun u.a., Miteinander reden: Kommunikationspsychologie für Führungskräfte, S. 53ff.).
Sehen Sie es mir nach – aber der an sich überholte Herrenwitz ist ein nach wie vor taugliches Beispiel. Es gibt immer noch Kreise, in denen diese Humorform in Reden außerordentlich goutiert wird – und dann muss und wird der Redner das auch bedienen. Schließlich will er häufig das zentrale Anliegen erreichen, von den Hörern als „einer von uns“ akzeptiert zu werden. Was an der einen Stelle für wohlwollendes Gelächter sorgt, kann für ein anderes Publikum ganz schnell ein No-Go sein. Ich will hier die Frage der Political Correctness bewusst nicht weiter bedienen – der derzeitige wütende Disput zwischen Verfechtern und Gegnern dieser Disziplin ist ja nicht nur in den USA zu beobachten. Entscheidend für die Rhetorik ist der linguale – ja, auch neurolinguale Brückenschlag zum Publikum. Wenn das Publikum auch im unbewussten System 1 emotional fühlt, dass der Redner wie „einer von uns“ ist, denkt, spricht, versteht, dann ist das unmittelbare Anliegen der Rede erreicht – übrigens auch im Sinn eines Werte- und Entwicklungsrasters der Führungs- und Kommunikationspsychologie: Der Redner hat in diesem Fall den Balanceakt zwischen Authentizität und Wirkungsbewusstsein erfolgreich absolviert (vgl. Schulz von Thun u.a., Miteinander reden: Kommunikationspsychologie für Führungskräfte, S. 53f.).
Neben der Analyse der Zielgruppe spielen ihre spezifischen Erwartungen eine zentrale Rolle und sind deswegen sorgfältig zu analysieren. Das ist häufig nicht allzu schwer – aber unterschätzen Sie es nicht, hier „den richtigen Erwartungston“ zu finden. Bei der Gelegenheitsrede zum Beispiel steht im Vordergrund der Erwartungshaltung des Publikums die emotionale Verstärkung einer gemeinsamen Gefühlshaltung zu einem bestimmten Anlass. Ob Trauerrede, Dankesrede, Jubiläumsrede: Die Zuhörer werden in ihrer überwiegenden Mehrheit eine bestimmte „kollektive emotionale Einfärbung“ besitzen, die der Redner vorfindet und von der aus eine emotionale Verstärkung und Bestätigung aufgebaut werden muss.
Ein Beispiel aus meiner eigenen Redepraxis: Als Rektor stand ich einmal vor der äußerst heiklen Aufgabe, für einen (auch von mir) hochgeschätzten Professoren-Kollegen die Trauerrede zu halten. Dieser Kollege war am Ende seiner Laufbahn an einer massiven Depressionsphase schwer erkrankt und