Er überstand die Zeit bis zur Befreiung 1945 – in Unwissenheit darüber, was mit seiner Familie während des nationalsozialistischen Terrors geschah. Seine Frau und seine Tochter überlebten in einem Frauenkloster versteckt, seine gesamte Familie in Litauen fiel der sog. Endlösung der Judenfrage zum Opfer.
Lévinas äußerte sich selten über diese Zeit. Ein kleiner Aufsatz »Nom d’un chien« oder das Naturrecht berichtet vom Elend und den Erniedrigungen dieser Zeit und weckt Verständnis für die Entscheidung des Philosophen, nie wieder deutschen Boden zu betreten.
»Wir waren siebzig in einem Waldarbeiterkommando israelitischer Kriegsgefangener in Nazideutschland […]. Die französische Uniform beschützte uns damals noch vor der Hitlerschen Vernichtungswut. Die anderen Menschen jedoch, die uns trafen oder uns Arbeit oder Befehle gaben oder uns sogar zulächelten – und die Kinder und Frauen, die vorübergingen und manchmal einen Blick auf uns warfen –, beraubten uns unserer Menschenhaut. Wir waren nur noch quasi-menschlich, eine Affenbande. Wie es die Kraft und das Elend der Verfolgten ist: Ein dünnes inneres Gemurmel erinnerte uns an unser Dasein als Vernunftwesen. Doch wir waren nicht mehr auf der Welt. Unser Kommen und Gehen, unsere Pein und unser Gelächter, unserer Krankheiten und Zerstreuungen, die Arbeit unserer Hände und die Angst in unseren Augen, die wenigen Briefe aus Frankreich, die man uns aushändigte und diejenigen an unsere Familien, die man akzeptierte – all das geschah zwischen Klammern. Wesen, die ihrer Art nicht entkommen konnten; sprachlose Wesen, trotz ihres reichen Wortschatzes.« (NdCh, 57ff.)
Selbst als ihm im Jahr 1983 der Karl-Jaspers-Preis der Universität Heidelberg verliehen wurde, kam Lévinas nicht nach Deutschland. Sein Sohn Michael nahm an seiner Stelle den Preis entgegen, verlas die vom Vater vorbereitete Rede (vgl. Malka, 247).
Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte Lévinas nach Frankreich zurück. Im Jahr 1946 übernahm er die Leitung der »Ecole Normale Israélite Orientale« (ENIO) in Paris, einer Schule für Jüdinnen und Juden vor allem marokkanischen Ursprungs, die Lehrer für die Schulen der »Alliance Israélite Universelle« ausbildet. Die Konstellation war durchaus ungewöhnlich, bedenkt man, dass Emmanuel Lévinas ein Aschkenas war, ein Jude aus Osteuropa, während die ihm anvertrauten Schülerinnen und Schüler Sephardim, Juden und Jüdinnen aus Nordafrika waren. Lévinas behielt die Leitung der Schule nominell bis 1973, lehrte dort Philosophie und Hebräisch. Die Zeit bis zu seiner Emeritierung an der Universität in Paris im Jahr 1976 beschreibt Lévinas selbst so:
»Seit 1947 regelmäßige Vorlesungen im philosophischen Colloquium, das von Wahl gegründet und mit Leben erfüllt wurde. Leitung der hundert Jahre alten Ecole Normale Israélite Orientale, Ausbildung von Französischlehrern für die Alliance Israélite Universelle des Mittelmeerraumes. […] Seit 1957 jährliche Vorlesungen über talmudische Texte bei den Colloquien der Französischen Jüdischen Intellektuellen. 1961 Doktordissertation der Geisteswissenschaften. Seit 1967 Professur an der Universität Paris-Nanterre und seit 1973 an der Sorbonne.
Dieses Sammelsurium ist eine Biographie.« (EN, 108)
Im September 1994 starb Lévinas’ Frau Raissa, die er zärtlich »Rainka« nannte. Raissa Lévinas hatte ihren Mann immer zu Vorträgen und Vorlesungen begleitet, war in seiner Nähe, aber stets im Hintergrund. Nach dem Tod von Emmanuel Lévinas schreibt Wilhelm Schmid: »Die Inkarnation des Anderen, das war für Lévinas sein Frau. Als er sie letztes Jahr zu Grabe tragen musste, mochte er selbst nicht mehr leben. Lévinas starb am 25. Dezember, fast 90 Jahre alt.« (Schmid, 27.12.1995).
Emmanuel und Raissa Lévinas (Malka, 224).
Emmanuel Lévinas hat den Holocaust erlebt und überlebt. Und wenngleich er ihn in seiner Philosophie nicht explizit thematisiert, sind die Erfahrungen dieser Zeit wesentlicher Motor für die Entwicklung seiner Ethik. Lévinas’ Biographie war, wie er selbst sagte, geprägt von der Vorahnung des Nazigrauens und der Erinnerung daran (vgl. EN, 108). Der Holocaust ist für ihn aufs Engste verquickt mit der Frage, wie die abendländische humanistische Tradition solche Anti-Blüten treiben konnte. »Ich suchte keine Antwort für Auschwitz, sondern für die, die überlebt haben«, sagte er bei einem Kolloquium in Leuven (zitiert nach Meyer-Drawe, 157).
Was den Juden während des Nazi-Terrors widerfahren ist, ist singulär. Doch die Erfahrungen, die aus dieser Unmenschlichkeit gewonnen wurden, können Gültigkeit für die ganze Menschheit besitzen. Die Unmenschlichkeit des 20. Jahrhunderts muss auch von der Philosophie verarbeitet werden, denn der Holocaust ereignete sich nicht fernab der abendländischen Denktradition und des Humanismus, sondern inmitten von beidem.
»Es geht nicht darum, […] an dieser Herrschaft, die von den Dingen und den Bösen über die Menschen ausgeübt wird, an dieser Tierheit, zu zweifeln. Aber Menschsein heißt zu wissen, dass es so ist. Die Freiheit besteht darin zu wissen, dass die Freiheit in Gefahr ist. Aber Wissen und Bewusstsein bedeuten, Zeit haben, um dem Augenblick der Unmenschlichkeit auszuweichen und zuvorzukommen. « (TU, 38)
Literatur
Malka, Salomon: Emmanuel Lévinas. Eine Biographie, München 2003
Lévinas im Profil
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Lévinas’ Ethik und die abendländische Tradition1
Die Ethik Lévinas’ ist ein Denken vom Anderen her. Damit hat sie einen anderen Ursprung als traditionelle ethische Konzepte, die von der Identität, vom Denken des Selben ausgehen. Doch Lévinas’ Philosophie entstand nicht unabhängig von der abendländischen Tradition, sondern gerade in der kritischen Auseinandersetzung mit ihr. Er schätzt diese Philosophie, die auch sein Denken geschult hat, doch er schätzt sie nicht kritiklos. Denn mit dem Streben des ontologischen Denkens nach Weisheit als vollem Selbstbesitz des bewussten Ich gehe immer auch eine Gefahr einher: die der Totalität allen Denkens, der Rückführbarkeit alles einzeln Seienden auf das Allgemeine. Auf diese Weise gingen nach Lévinas die Wertschätzung von Andersheit und eine echte Transzendenz verloren.
Kritik der Ontologie
Lévinas kritisiert die ontologische Tradition, die das Denken des Abendlandes geprägt und dominiert hat.
Exkurs
Ontologie
Ontologie ist die »›Seinslehre‹, d.h. Lehre vom Seienden, sofern es ist.« (Halder 2008, 233) Damit ist ein Begriff gemeint, der in der philosophischen Tradition erst im 17. Jahrhundert aufkam, vom Prinzip her jedoch bereits auf das aristotelische Denken zurückgeht. In diesem interessiert nicht das einzelne Seiende in seiner Singularität, sondern das in ihm aufleuchtende allgemeine Sein. »Ontologie ist reine, sich selbst genügende theoria, ›Theorie‹ im ausgezeichneten Sinn. Die ontologische Frage ist sowohl die leerste, weil allgemeinste, als auch die umfassendste, weil auf die unbeschränkte Totalität gehend.« (ebd.)
Im ontologischen Denken stehen sich zwei Grundordnungen gegenüber: auf der einen Seite die reale, sinnlich wahrnehmbare, aber vergängliche Welt, die Heimat aller einzelnen Seienden; auf der anderen Seite die geistige Wirklichkeit der Ideen, die alle allgemeinen Prinzipien beheimatet. Sie ist gleichsam die vorgegebene und übergeordnete Ordnung für alles sinnlich Seiende. Der Mensch lebt in beiden Ordnungen: Körperlich ist er in die sinnlich erfahrbare Welt eingebunden, an der geistigen Welt kann er teilhaben, da er mit Geist ausgestattet ist. Weil der Mensch vernunftbegabt ist, kann er die Welt der sinnlichen Einzelwesen transzendieren und an den geistigen Erkenntnissen teilhaben (vgl. Müller / Halder, 219f.).
In diesem ontologischen Denken gilt der Primat des Geistes, der die Grundsätze des allgemeinen Seins erkennen, sich an den allgemeinen Prinzipien orientieren kann. Alle sinnlich wahrnehmbaren Einzelphänomene werden den geistigen Prinzipien untergeordnet und auf ihren allgemeinen Seinsgrund zurückgeführt. Auf diese Weise entsteht jedoch nach Lévinas Totalität, da jede Andersheit und sogar ihr Gegenteil letztlich auf das eine Prinzip bezogen