Dabei waren die beiden jungen Männer höchst unterschiedlich: Lévinas war emigrierter Russe und Jude, geprägt von diesem kulturellen Erbe; Blanchot stammte aus gutbürgerlichen französischen Verhältnissen, arbeitete als Journalist an Zeitschriften der extremen Rechten mit. Auch antisemitische Äußerungen sind von ihm überliefert. Die unterschiedliche politische Haltung mag mit ein Grund für eine zunehmende Entfremdung der beiden Freunde gewesen sein. Gleichwohl war es Blanchot, der Lévinas’ Frau und Tochter half, während des Krieges unterzutauchen.
»Wir verließen Straßburg fast zur gleichen Zeit, um nach Paris zu gehen, aber obgleich unser Kontakt nie abriss, bedurfte es doch der Katastrophe eines entsetzlichen Krieges, um unsere Freundschaft, die vielleicht etwas lockerer geworden war, wieder zu festigen. Um so mehr, als Lévinas, der zunächst in Frankreich in Gefangenschaft geriet, mir auf geheimem Weg die Bitte übermitteln ließ, für seine Lieben zu sorgen, die leider von den Gefahren einer abscheulichen Politik bedroht waren.« (Ebd.)
Die Freundschaft zwischen Lévinas und Blanchot begleitete sie ihr ganzes Leben. Zeugnis dieser Beziehung geben Veröffentlichungen der beiden. Emmanuel Lévinas veröffentlichte im Jahr 1975 eine kleine Schrift Sur Maurice Blanchot, Blanchot beteiligte sich seinerseits 1980 an der Veröffentlichung Textes pur Emmanuel Lévinas und gab einer Erzählung den Namen von Emmanuels Bruder Aminadab.
Im Sommer 1928 ging Lévinas nach Freiburg. Dort begegnete er Philosophen, die sein Denken schulten und prägten und die unterschiedlicher nicht sein könnten: Husserl und Heidegger.
Der Philosophiestudent Lévinas lernte Edmund Husserl zu einem Zeitpunkt kennen, als dieser kurz vor seiner Emeritierung stand. Und dennoch entspann sich zwischen beiden eine enge Beziehung, Lévinas sprach Zeit seines Lebens voller Hochachtung über den Philosophen, aber auch den Menschen Husserl.
Im Jahr 1930 übersetzte Lévinas zusammen mit seiner Mitstudentin Gabrielle Pfeiffer Husserls Cartesianische Meditationen ins Französische, stellte der Übersetzung eine Einführung in die Phänomenologie Husserls voran und trat damit zum ersten Mal als Philosoph in die wissenschaftlichen Öffentlichkeit. Er weiß sich Zeit seines Lebens von der Phänomenologie Husserls beeinflusst.
Exkurs
Edmund Husserl und die Phänomenologie
Edmund Husserl (1859–1938), Mathematiker und Philosoph, gilt als Begründer der phänomenologischen Methode. Er versuchte die Philosophie als apriorische strenge Wissenschaft neu zu begründen, indem er bei den Phänomenen, bei den Sachen selbst, in ihrer Selbstgegebenheit ansetzte und den Verzicht auf jegliches (Vor-)Urteil forderte. Die Phänomenologie stellt die Frage, ob der Erkenntnisgegenstand auch unabhängig vom Bewusstsein wirklich ist und versucht, Meinungen und Vorentscheidungen auszuklammern um zu den Sachen selbst zu kommen (vgl. Müller / Halder, 135f.).
Husserl wurde als zum Protestantismus konvertiertem Juden 1936 die Lehrerlaubnis entzogen.
In Freiburg begegnete Lévinas auch Martin Heidegger, dem Lehrstuhl-Nachfolger Edmund Husserls. Wie die meisten seiner Mitstudierenden war er begeistert von Heidegger. An einem philosophischen Treffen im Jahr 1929 in Davos, das maßgeblich von Ernst Cassirer und Heidegger gestaltet wurde, nahm auch der junge Lévinas teil.
Exkurs
Ernst Cassirer
Cassirer (1874–1945) war einer der bedeutendsten Neukantianer der sog. Marburger Schule. Obwohl er Jude war, war er 1929 noch Rektor der Universität Hamburg geworden, war Professor in Oxford, Göteborg und seit 1941 in New York. Cassirer steht für eine Philosophie, die die formale Betrachtungsweise des Neukantianismus mit einem Sinn für Geschichte verbindet. »Statt lediglich die allgemeinen Voraussetzungen des wissenschaftlichen Erkennens der Welt zu untersuchen, will er die verschiedenen (geschichtlichen) Grundformen des Verstehens der Welt bestimmt gegeneinander abgrenzen: Symbolische Formen in den Grundausprägungen von Sprache, Mythos, Wissenschaft. « (Müller / Halder, 54)
Die Begegnung zwischen Cassirer und Heidegger scheint nicht harmonisch verlaufen zu sein, wie den Protokollen zu entnehmen ist, da beide eine völlig unterschiedliche Philosophie vertraten. »Die eine beruft sich auf die europäische Tradition der Philosophie seit der Aufklärung, und die andere, die einen Neubeginn verkündet, zögert nicht, die Destruktion all dessen anzukündigen, was bisher die Fundamente der westlichen Metaphysik gewesen sind (Geist, Logo, Vernunft).« (Aubenque, zitiert nach Malka, 60). Lévinas stand auf der Seite der neuen Philosophie, war von Heideggers Denken angetan. Der junge Philosoph Maurice de Gandillac, wie Lévinas später Professor an der Sorbonne, berichtete von dieser Begegnung: »Er (Lévinas) sprach von Heidegger voller Verehrung, offenbarte uns alle Nuancen eines Denkens, das ihm bereits wohl vertraut war. Damals verspürte er dieses Misstrauen noch nicht, das sich ihm später aufdrängte.« (Gandillac, zit. nach Malka, 134)
Exkurs
Martin Heidegger
Martin Heidegger (1889–1976) war ein Schüler Husserls, ab 1923 Philosophieprofessor in Marburg, ab 1928 Nachfolger Husserls in Freiburg. Sein Hauptwerk Sein und Zeit ist methodisch der Phänomenologie verpflichtet.
Heidegger geht nicht vom Bewusstsein, sondern vom konkreten Da-sein des Menschen in der Welt aus. Dieses Dasein ist endlich, vom eigenen Tod bedroht. Aufgabe des Einzelnen ist es, im Vorfeld des Todes ein Verhältnis zu seiner eigenen Existenz zu finden (vgl. Müller / Halder, 127f.).
Martin Heidegger trat im Jahr 1933 in die NSDAP ein und wurde im selben Jahr Rektor der Freiburger Universität. Seine Rektoratsrede Die Selbstbehauptung der Deutschen Universität war höchst umstritten und stellte Heidegger in ideologische Nähe zu den Nationalsozialisten. 1934 trat Heidegger von seinem Amt als Rektor zurück, doch seine nationalsozialistische Aktivität blieb an ihm haften.
Es ist nicht belegt, ob sich zwischen dem Studierenden Lévinas und dem Professor Heidegger ein engerer Kontakt entwickelte, obwohl beide Teilnehmende am philosophischen Treffen in Davos waren. Lévinas schätzte Zeit seines Lebens die denkerische Schärfe Heideggers, wandte sich jedoch vom Denken eines Seins ab, in dem das Zwischenmenschliche, die Ethik, die Begegnung von Mensch zu Mensch keine Rolle spielen.
»Heidegger ist für mich der größte Philosoph des Jahrhunderts, vielleicht einer der ganz großen des Jahrtausends; doch das macht mir zu schaffen, denn ich kann niemals vergessen, was er 1933 darstellte, selbst wenn er es nur für eine sehr kurze Zeit war.« (ZU, 147)
1930 promovierte Lévinas und ging an die Sorbonne in Paris. Geprägt durch positive Erfahrungen in Straßburg und begeistert vom französischen Humanismus, wurde er 1930 französischer Staatsbürger. Im Jahr 1932 heiratete er Raissa Lévy, die er bereits von Kindesbeinen an kannte. Raissa war zum Musikstudium nach Wien und Paris gegangen und hatte dort Emmanuel wieder getroffen. Im Jahr 1935 wurde die Tochter Simone geboren, 1949 folgte Sohn Michael, Komponist, Pianist und Professor am Konservatorium in Paris.
In den 30er Jahren arbeitete Emmanuel Lévinas im Lehrkörper der »Alliance Israélite Universelle«, einer internationalen jüdischen Organisation, die im Jahr 1860 in Frankreich als Reaktion auf antisemitische Ausschreitungen gegründet wurde und die bis heute eine zentrale Institution für jüdische Bildung und Kultur darstellt (vgl. http://www.aiu.org).
Als Franzose wurde Lévinas 1939 eingezogen, geriet 1940 in deutsche Gefangenschaft und wurde in Deutschland in das Lager Fallingbostel Stalag XI B, ein Lager für Kriegsgefangene, gebracht. Die Behandlung in diesen Lagern war abhängig von der Nationalität der Inhaftierten. Osteuropäische Insassen sowie Juden wurden im Hinblick auf Nahrung und Medizin unzureichend versorgt (vgl. http://www.relikte.com/fallingbostel/index.htm).