Grundwissen Geistigbehindertenpädagogik. Barbara Fornefeld. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Barbara Fornefeld
Издательство: Bookwire
Серия: Basiswissen der Sonder- und Heilpädagogik
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846387757
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dass das System kein Garant für Lebensqualität aller Menschen mit geistiger Behinderung ist. Nach einer Entwicklung in den 1980er und 1990er Jahren, die optimistisch stimmte, verschlechtert sich die Lebensqualität für Menschen mit schwerer Behinderung oder für diejenigen mit zusätzlichen psychischen Beeinträchtigungen seit Beginn der 2000er Jahre. Warum es heute trotz der leitenden Prinzipien von Integration/Inklusion, Selbstbestimmung und Teilhabe zur Segregation bestimmter Personengruppen kommt, wird deutlich, wenn man die Hintergründe der geänderten Behindertenpolitik mit ihren Vorschriften genauer betrachtet.

      Diskriminierungsverbot

      In der deutschen Geistigbehindertenpädagogik war man sich sicher, dass man aus den Fehlern der eigenen Geschichte gelernt habe und eine systematische Vernichtung von Menschen mit geistiger Behinderung nicht mehr möglich sei. Man hielt ihr Lebensrecht für gesichert. Die Schriften des australischen Philosophen Peter Singer, in denen er das Lebensrecht von Menschen mit schwerer Behinderung unter Nützlichkeitserwägungen in Frage stellt, führten Anfang der 1990er Jahre zu starker Verunsicherung, zu Protestkundgebungen von Selbsthilfegruppen und zu zahlreichen Diskussionsforen und Tagungen, auf denen die utilitaristischen Thesen Singers kritisch diskutiert wurden. Diese sogenannte ‚Singer-Debatte‘ schärfte das Bewusstsein für die Gefahren, die für Menschen mit geistiger Behinderung von der Bioethik und den Biotechnologie ausgeht. Unter dem Druck der Behindertenverbände konnte 1994 das so genannte ‚Diskrimierungsverbot‘ durchgesetzt werden, indem das Grundgesetz um den Art. 3 Absatz 3 Satz 2 ergänzt wurde: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligtwerden.“ Das ‚Diskriminierungsverbot‘ war zwar ein wichtiger Beitrag zur Humanisierung der Gesellschaft, doch seine Wirkung blieb zu gering, um die Frage nach dem Lebenswert und dem Lebensrecht von Menschen mit geistiger oder gar mit schwerer Behinderung in einer von ökonomischem Denken bestimmten Leistungsgesellschaft verhindern zu können. Es bleibt weiterhin Aufgabe der Geistigbehindertenpädagogik sich mit aktuellen ethischen und lebensrechtlichen Fragen zu befassen und sich zum Schutz ihrer Klientel gegen diskriminierende Tendenzen zu Wort zu melden.

      

Einführung der Sozialgesetzbücher

      Für den aktuellen Umbau-Prozess der Geistigbehindertenpädagogik und Rehabilitation entscheidender als das ‚Diskriminierungsverbot‘ war die Einführung des Sozialgesetzbuches IX: Rehabilitation und Teilhabe (2001) und XII: Sozialhilfe/Eingliederungshilfe (2003). Diesen Sozialgesetzen liegt das von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2001 eingeführte systemische Verständnis von Behinderung zugrunde, wie es in der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (International Classification of Functioning, Disability and Health, ICF) festgehalten ist. Sie wird in Kapitel 3.2 genauer dargestellt.

      Nachdem das Bundessozialhilfegesetz von 1961 vierzig Jahre in der BRD Gültigkeit hatte, begann mit dem am 1. Juli 2001 in Kraft getretenen Neunten Sozialgesetzbuch (SGB IX) – Rehabilitation und Teilhabe – der Umbau der gesetzlichen Vorgaben, den der ‚Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen‘ so erläutert: „Es fasste das bis dahin geltende Recht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen, das vorher auf mehrere Gesetze verteilt war, zusammen und entwickelte es weiter. Damit wurde auch der Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik eingeleitet. Bis dahin war sie geprägt von dem Fürsorgedanken, mit der Zielsetzung: dem behinderten Menschen muss geholfen werden“ (www.behindertenbeauftrag te.de vom 28.12.2008).

      Mit der Einführung des SGB IX stelle die Behindertenpolitik folgende Aspekte in den Mittelpunkt:

      

„Anerkennung behinderter Menschen als Experten in eigener Sache

      

Zusammenarbeit mit den Verbänden behinderter Menschen

      

Teilhabe und Selbstbestimmung behinderter Menschen ermöglichen

      

Behinderte Menschen stehen im Mittelpunkt“ (www.behindertenbeauftragte.de vom 28.12.2008).

      Kernelemente und ziele des SGB IX

      

„Leistung aus einer Hand

      

Schnelle Zuständigkeitserklärung

      

Stärkung des Wunsch- und Wahlrechtes behinderter Menschen bei Inan spruchnahme der Leistungen der Rehabilitation und Teilhabe

      

Kooperation, Koordination und Konvergenz des Leistungsgeschehens, d.h. Abstimmung und Zusammenarbeit der Träger bei der Leistungserbringung

      

Stärkung des Grundsatzes ‚ambulant vor stationär‘

      

Besondere Berücksichtigung der Bedürfnisse behinderter Frauen und Kinder

      Das SGB IX beinhaltet u.a.

      

Definition von ‚Behinderung‘

      

Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe, unterhaltssichernde Leistungen

      

allgemeine Grundsätze: Welche Hilfen gibt es? Wie werden sie erbracht? Wer ist zuständig?

      Zusätzlich gibt es Verordnungen, Richtlinien, gemeinsame Empfehlungen und sonstige Durchführungsvorschriften der jeweiligen Leistungsträger. Leistungen zur Teilhabe werden erbracht als

      

Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, als

      

Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, als

      

Unterhaltssichernde Leistungen sowie als

      

Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft“ (www.behindertenbeauftragte.de vom 28.12.2008).

      Abgeschlossen wurde der Umbau durch die Einfügung des Bundessozialhilfegesetzes in das Zwölfte Sozialgesetzbücher (SGB XII) –Sozialhilfe/Eingliederungshilfe –, das in seinen wesentlichen Teilen am 1. Januar 2005 in Kraft trat.

      Heute sind es vier Motive, die die aktuellen Entwicklungen innerhalb der Geistigbehindertenpädagogik, der Rehabilitation sowie der Behinderten- und Sozialpolitik bestimmen:

      

Teilhabe verwirklichen

      

Gleichstellung durchsetzen

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