Grundwissen Geistigbehindertenpädagogik. Barbara Fornefeld. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Barbara Fornefeld
Издательство: Bookwire
Серия: Basiswissen der Sonder- und Heilpädagogik
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846387757
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die sich aus diesem Denken für Menschen mit Behinderung zur Zeit des Nationalsozialismus ergaben, beschreibt Rudnick folgendermaßen:

      „Der Sozialdarwinismus, die von Charles Darwin nicht gewollte Übertragung seiner Erkenntnisse auf das Zusammenleben der Menschen und die Eugenik waren die Haupttheorien, mit denen z.B. Adolf Hitler in seinem Buch ,Mein Kampf‘ (…) die ,Ausmerzung‘ Kranker, Behinderter und Randständiger begründete. Die organisatorische Umsetzung dieser Theorien wurde vor 1933, nicht nur von den Nationalsozialisten, im Rahmen der Sterilisations- und ,Euthanasie‘-Diskussion theoretisch vorgeplant und teilweise praktisch erprobt. Die aussondernde Erziehung und Unterbringung von Behinderten, Kranken und Randständigen, die auch schon vor 1933 Realität waren, müssen als positive Voraussetzungen für die spätere Sterilisations- und ,Euthanasie‘-Kampagne im Dritten Reich gewertet werden“ (13).

      

Euthanasie

      Im Nationalsozialismus wurde durch die Vernichtung behinderter Menschen („Euthanasie“) das eingelöst, was in den 1920er Jahren begann, nämlich die Aberkennung des Lebensrechtes schwachsinniger und als schulbildungsunfähig gel-tender Menschen. Am 14.07.1933 wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verabschiedet, das am 01.01.1934 in Kraft trat und zur Selektion von ökonomisch brauchbaren und ‚minderwertigen‘ Hilfsschülern führte. Die Diffamierungskampagne gegen die Schwächsten verschärfte sich. Nach Inkrafttreten des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ setzte 1934 eine Welle von Zwangssterilisationen ein, von der nicht nur behinderte Menschen betroffen waren, sondern alle Randgruppen der Bevölkerung. Die Hilfsschullehrer wurden zu Mitarbeitern an der ‚volksbiologischen Aufgabe‘, der Reinerhaltung der arischen Rasse, indem sie die Schüler meldeten, die dem völkischen Kriterium der Brauchbarkeit, der Nützlichkeit für die Volksgemeinschaft nicht entsprachen, also die Schüler, die wir heute als geistig behindert bezeichnen. Mit dem Reichschulpflichtgesetz von 1938 wurde für die Aussonderung dieser Kinder die juristische Grundlage geschaffen. In Paragraph 11 heißt es:

      „Bildungsunfähige Kinder und Jugendliche sind von der Schulpflicht befreit. Als bildungsunfähig sind solche Kinder anzusehen, die körperlich, geistig oder seelisch so beschaffen sind, dass sie auch mit den vorhandenen Sonderschuleinrichtungen nicht gefördert werden können“ (nach Speck 1979, 67).

      Auch wenn sich manche Hilfsschullehrer bemühten, die Bildungsfähigkeit all ihrer Schüler, auch der geistig behinderten, zu belegen, gelang es ihnen doch nicht, dem von 1939 an beginnenden systematischen „Euthanasie“-Programm wirkungsvoll zu begegnen. Die Gleichsetzung von bildungsunfähig und lebensunwert brachte für die schwachsinnigen Menschen Vernichtung und Tod. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurden die Maßnahmen immer gezielter.

      „Ein Erlaß vom 18.08.1939 verpflichtete Hebammen, Geburtshelfer und Leiter von Entbindungsanstalten, alle ,idiotischen und missgebildeten Neugeborenen‘ beim zuständigen Gesundheitsamt zu melden. Nach einer ,Begutachtung‘ wurden sie zur ,Vernichtung‘ freigegeben. Am Ende dieser ,Kinder-Aktion‘ (1941) wurden auch ältere Kinder und Jugendliche erfasst. Die Gesamtzahl der Getöteten wird auf 5000 geschätzt. Von 1939 bis 1941 lief die ,Aktion T4‘ gegen erwachsene Geisteskranke, unter denen sich auch Menschen mit geistiger Behinderung befunden haben mögen; die Zahl der Getöteten wird auf 80 000 bis 100 000 geschätzt. Von 1941 bis 1943 lief die ,Sonderbehandlung 14f 13‘, die zur ,Ausmerzung‘ Kranker, auch geisteskranker Häftlinge, Schwachsinniger, Verkrüppelter und anderer als ,lebensunwert‘ Gekennzeichneter in den Konzentrationslagern führte. Die Zahl der Opfer wird auf 20 000 geschätzt“ (Mühl 1991, 16).

      Situation zu Kriegsende

      1945 waren die Anstalten leer, das Hilfsschulwesen existierte nicht mehr. Die nationalsozialistische Ideologie mit ihren sozialdarwinistischen Theorien und menschenverachtenden bzw. -vernichtenden Praktiken führte zu einer breiten Verunsicherung im Umgang mit behinderten Menschen und zum Verlust humaner Werte. Die Vorurteile gegenüber Menschen mit geistiger Behinderung setzten sich nach Kriegsende weiter fort.

      Beck, C. (1995): Sozialdarwinismus, Rassenhygiene, Zwangssterilisation und Vernichtung „lebenswerten“ Lebens. 2. Aufl. Bonn

      Dörner, K. (1967): Nationalsozialismus und Lebensvernichtung. In: Vierteljahresheft für Zeitgeschichte, 15, 121–152

      Klee, E. (1985): „Euthanasie“ im NS-Staat. Die Vernichtung lebensunwerten Lebens. Frankfurt/M.

      Schmuhl, H.-W. (1992): Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“, 1890–1945, 2. Aufl. Göttingen

      Es ist schwierig, eine gesamtdeutsche Entwicklung der Geistigbehindertenpädagogik nach Ende des Zweiten Weltkrieges nachzuzeichnen. Bislang gibt es keine systematische Erforschung der Nachkriegszeit in den vier Besatzungszonen bzw. den späteren beiden deutschen Staaten. Die Gründe hierfür sind vielfältig, wie z.B. :

      

Konzentration auf den Wiederaufbau und die Wiedererrichtung des Bildungs- und Versorgungssystems für Menschen mit Behinderung,

      

Zukunftsorientierung bei gleichzeitiger Verdrängung der geschichtlichen Ereignisse, wie der systematischen Ermordung von Menschen mit geistiger Behinderung und Vernichtung von historischem Material in den Anstalten bei Kriegsende,

      

unterschiedliche ideologische Interessen in beiden deutschen Staaten mit der Ausbildung von Vorurteilen gegenüber den Entwicklungen im jeweils anderen Teil.

      Aufbau des Bildungs- und Versorgungssystems

      Da die historische Aufarbeitung im Sinne einer zeitgeschichtlichen Historiografie der Geistigbehindertenpädagogik erst beginnt, werden hier nur einige Aspekte der Entwicklung zwischen 1945 und 1989 in beiden deutschen Staaten so dargestellt, wie sie sich heute zeigen: Bildungs- und Versorgungssysteme für Menschen mit geistiger Behinderung wurden auf- und ausgebaut. Sie unterschieden sich auf ideologischer und juristischer Ebene von einander, während sie auf der Ebene der pädagogischen Praxis Parallelen aufweisen. Nach der Vereinigung in den 1990er Jahren setzte dann in der gesamtdeutschen Behindertenhilfe eine umfassende Neuorientierung, eine Periode des Umbaus ein, die bis heute andauert und auf die ich in Kapitel 2.5 näher eingehen werde.

      Das Bildungswesen für Kinder mit geistiger Behinderung hatte durch die Ereignisse zwischen 1934 und 1945 „substantiellen Schaden“ (Speck 1979, 68) genommen. „Schwer schwachsinnigen“ Kindern, wie man geistig behinderte Menschen damals weiterhin nannte, gestand man keine Bildungsfähigkeit zu, obgleich Artikel 1 des 1949 in Kraft getretenen Grundgesetzes der Bundesrepublik die Unantastbarkeit der Würde des Menschen festschreibt. Man betrachtete Kinder mit geistiger Behinderung vordringlich als pflegebedürftig, weil man davon ausging, sie könnten den kulturellen Inhalten des Unterrichtes in der Hilfsschule nicht folgen. Weder ihre Lebenssituation noch ihre humanen Ansprüche waren von gesellschaftlichem Interesse, was nicht verwundert, wenn man sich die Lebensbedingungen der Menschen im Deutschland der frühen Nachkriegsjahre vor Augen führt: „Zunächst dauerte es im kriegszerstörten Deutschland jedoch ein Menschenalter, bis die äußeren Trümmer und die seelischen Verwüstungen einigermaßen weggeräumt und im Sonderschulwesen auch nur der Stand aus 1933 wieder erreicht war. Die Sonderpädagogik knüpfte dort an, wo sie 1933 aufgehört hatte“ (Möckel 2007, 208). Die Anstalten setzten ihre Arbeit fort und bildeten den einzigen außerfamiliären Lebensort für Menschen mit geistiger Behinderung in der Nachkriegszeit. Obwohl die Instandsetzung des Bildungssystems, zu dem auch die Hilfsschulen gehörten, vordringliches Ziel war, rückten die Kinder und Jugendlichen mit geistiger Behinderung erst in den 1960er Jahren ins Blickfeld, weil sie noch