Die pädagogischen und rehabilitativen Leitgedanken, die diese positive Entwicklung begleiteten, sind neben den in den 1970er Jahren eingeführten Prinzipien der ‚Normalisierung‘ und ‚Integration‘, die Idee der ‚Selbstbestimmung‘, des ‚Empowerments‘ und der ‚Teilhabe‘.
Normalisierung
Unter Normalisierung versteht man den 1959 von dem Dänen Bank-Mikkelsen entwickelten Leitgedanken zur Angleichung der Lebensmuster und Alltagsbedingungen von Menschen mit geistiger Behinderung an die üblichen Bedingungen der Gesellschaft, in der sie leben (normaler Tagesrhythmus, normaler Wochen- und Jahresablauf, normale Erfahrungen eines Lebenszyklus, normaler Respekt, in einer zweigeschlechtlichen Welt leben, normaler Lebensstandard, normale Umweltbedingungen). Das Normalisierungsprinzip will zur Humanisierung der Lebensbedingungen beitragen und ist das erste Konzept der Heilpädagogik und Behindertenhilfe, das sich konsequent „von der Leitidee der Fremdbestimmung“ (Greving/Ondracek 2005, 158) abwendet. Es wurde durch die wissenschaftliche und konzeptionelle Weiterentwicklung des Schweden Bengt Nirje und des Amerikaners Wolf Wolfensberger in den 1960er und 1970er Jahren zu einer handlungsleitenden methodischen Orientierung. In Deutschland hat vor allem Walter Thimm das Prinzip eingeführt und weiterentwickelt. Wie in Kapitel 4.5 noch gezeigt wird, war das Normalisierungsprinzip bei der Auflösung und Umgestaltung der großen Anstalten von Bedeutung.
Integration
Die Leitidee der Integration geht zum Teil aus dem Normalisierungsprinzip hervor und will die Eingliederung ausgesonderter Personengruppen in die Gesellschaft erreichen. Wie in Kapitel 3.5 gezeigt wird, entstand die Leitidee Mitte der 1970er Jahre als Folge der Empfehlung des Deutschen Bildungsrates zur gemeinsamen Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung. Integration versteht sich heute sowohl als Wertbegriff (Bejahung des Lebenswertes behinderter Menschen, Bejahung des menschlichen Grundbedürfnisses nach Teilhabe am sozialen Leben und Aufhebung künstlicher Trennung) als auch als Handlungsbegriff (räumliche, funktionelle, soziale, personale, gesellschaftliche und organisatorische Integration). Die Leitidee liefert somit die anthropologische Grundlage für ein verändertes Erziehungsverständnis (Fornefeld 2008, 108f). Obwohl die Integration zurzeit stark im schulischen Kontext diskutiert wird, ist sie auch in anderen Lebensbereichen von Bedeutung (z.B. in den Bereichen des Wohnens und Arbeitens oder in der Integrativen Erwachsenenbildung, Kap. 4).
Abb. 10: inklusiver Lea-Leseklub®
Selbstbestimmung
Das Prinzip der Selbstbestimmung geht auf die Independent-Living-Bewegung von Menschen mit Körperbehinderung in den USA zurück, die in den 1960er Jahren gegen die entmündigenden Lebensbedingungen in den Großanstalten protestierten und mehr Selbstbestimmungsmöglichkeiten forderten. Die internationale Diskussion um mehr Selbstbestimmung griff die Bundesvereinigung Lebenshilfe 1994 mit dem Duisburger-Kongress „Ich weiß doch selbst, was ich will“ auf. Seitdem ist die Realisation von Selbstbestimmung Thema in weiten Bereichen der Pädagogik und Rehabilitation für Menschen mit geistiger Behinderung.
Empowerment
Der Begriff des ‚Empowerments’ stammt aus den USA und ist nicht leicht ins Deutsche zu übersetzen. Empowerment beschreibt Mut machende Prozesse, „in denen Menschen in Situationen des Mangels, der Benachteiligung oder der gesellschaftlichen Ausgrenzung beginnen, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen“ (Herriger 2002, 18). Mit Empowerment ist die Entwicklung eigener Fähigkeiten und Kräfte zur Durchsetzung einer selbstbestimmten Lebensführung gemeint. Damit dies geschehen kann, müssen entwicklungsfördernde Bedingungen für benachteiligte Menschen geschaffen werden.
Inklusion
Das Konzept der Inklusion ist eine Weiterführung der Leitgedanken Normalisierung, Integration und Empowerment. In seiner konsequenten Umsetzung soll Inklusion die Integration ablösen. Das Konzept wird meist systemtheoretisch begründet und geht von der Vorstellung der Verbesserung der Gesellschaft hin zur Überwindung von Exklusion und Aussonderung aus. Sander hat hierzu ein fünfstufiges Modell entwickelt, das von Exklusion ausgeht und über Segregation, Integration auf Vielfalt als Normalfall zielt (Greving/Ondracek 2005, 178).
Teilhabe
Die Teilhabe ist das zuletzt eingeführte Leitprinzip der Behindertenpädagogik und -politik und wurde im Sozialgesetzbuch IX festgeschrieben (2001).
„Hilfe ist auf soziale Teilhabe ausgerichtet. Wenn der Andere nicht Erfüllungsobjekt der persönlichen und beruflichen Rollen und Normen des Helfenden sein soll, und wenn der Beteiligte sich als Werte verwirklichendes Subjekt dem Anderen mit-teilen will, so muss diese Beziehung auf Teilhabe oder Partizipation abzielen. Es geht um etwas Gemeinsames, um die zwar geteilte, aber verbindende Sorge um ein sinnvolles, gutes Leben und Zusammenleben“ (Speck 2008, 180).
Anerkennung
Der Tatsache, dass ein jeder Mensch auf den anderen angewiesen und insofern immer ein bedürftiger Mensch ist, trägt das Leitprinzip der Anerkennung Rechnung. Keiner kann ohne andere leben. Jeder benötigt zu einem würde- und qualitätsvollen Leben die Achtung und Anerkennung seiner Person durch andere. Das Prinzip der Anerkennung geht in gewissem Sinne den anderen Leitprinzipien voraus, weil es bei der „Verantwortung für die Verantwortlichkeit“ (Bauman 1999, 84) dem anderen Menschen gegenüber ansetzt. Ohne Anerkennung ist die Einlösung der anderen Leitprinzipien nicht möglich (Fornefeld 2008, 143). In Kapitel 3.7 wird vertiefend auf das Prinzip der Anerkennung eingegangen.
Heute gelten die Modelle des Normalisierungsprinzips, der Integration, des Empowerments und der Inklusion als aktuelle Handlungsansätze für die Heilpädagogik. Sie lösen die lange Zeit bestehende Leitidee der Verwahrung und Des-integration der Menschen mit geistiger Behinderung ab. Sie bauen historisch und inhaltlich aufeinander auf, wobei sie in ihren Konkretisierungen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. „Der Abschluss des (Ver-)Wandlungsprozesses dieser Modelle ist nicht absehbar und wird in den nächsten Jahren sicherlich zu weiteren Diskussionen, Visionen und Modellen führen“ (Greving/Ondracek 2005, 178). Eine Geistigbehindertenpädagogik, die sich der Anerkennung ihrer Klientel stellt, bleibt selbst glaubwürdig. Die Verantwortung für die Ansprüche von Menschen mit geistiger Behinderung unabhängig von Grad ihrer Beeinträchtigungen ist ernst zu nehmen, um ihre Lebensqualität zu sichern.
Abb. 11: Rolle der Leitprinzipien im Spannungsfeld gesellschaftlich-kultureller Erwartungen, Institutionen der Behindertenversorgung und pädagogischer Praxis
Die genannten Leitprinzipien charakterisieren einen umfänglichen Reformprozess im Bereich der Behindertenversorgung und einen Paradigmenwechsel in der Geistigbehindertenpädagogik, d.h. eine Änderung von Lehrmeinungen und Theorien. Der Paradigmenwechsel entsteht in Relation zu den aktuellen rechtsstaatlichen und gesellschaftlichen Vorgaben. Sie führen dazu, dass Menschen mit geistiger Behinderung in ihren Belangen heute ernst genommen werden und ihnen Wege zur Integration und Selbstbestimmung offen stehen, wie es sie zu keiner Zeit gab. Menschen mit geistiger Behinderung können ein qualitätsvolles Leben führen, doch sie bleiben immer auch abhängig von