3.1 Einführung anhand des Konzepts der sozialen Einbettung
Supermärkte bieten uns das ganze Jahr günstige Lebensmittel aus unterschiedlichen Teilen der Welt. Was viele als großartige Errungenschaft bewerten, motiviert andere, besonderes Augenmerk auf regional produzierte Lebensmittel zu legen. Galten früher exotische Speisen als Statussymbol, wurden in den letzten Jahren regionale Lebensmittel zur Ausdrucksform eines nachhaltigen Lebensstils besser verdienender und höher gebildeter Gruppen. Aber macht es einen Unterschied, ob wir Lebensmittel von Betrieben aus der Region oder aus anderen Teilen der Welt beziehen? Mithilfe des Konzepts der Einbettung soll der Verknüpfung zwischen Essen und den in konkreten Regionen verankerten menschlichen Beziehungen, ökologischen und institutionellen Strukturen der Lebensmittelversorgung auf die Spur gegangen und eine Auflösung des Gegensatzes zwischen global und regional versucht werden.
Das von Karl Polanyi (2001) geprägte und von der Wirtschaftssoziologie und den kritischen Food Studies neu gedeutete Konzept der Einbettung (→ embeddedness) wird breit genutzt, um Produktions- und Distributionssysteme (auch solche von Lebensmitteln) hinsichtlich ihrer Verankerung in sozialen und institutionellen Strukturen zu beurteilen. Polanyi argumentiert, dass ökonomisches Handeln in vormarktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften in Sozialbeziehungen wie Verwandtschaft, Nachbarschaft oder Solidarverpflichtungen eingebettet sei. Der Kapitalismus würde – in enger Kooperation mit dem Nationalstaat – wirtschaftliches Handeln zunehmend von sozialen Beziehungen entbetten. Damit kontrastiert er in soziale Beziehungen eingebettete (vorkapitalistische) und entbettete (kapitalistische) Gesellschaften und hinterfragt die auch durch die → Globalisierung vorangetriebene Dominanz des Marktes über die Gesellschaft. Laut Giddens (1995, 33) geht die Globalisierung, welche u. a. durch die Ausweitung der Reichweite individuellen Handelns gekennzeichnet ist, einher mit einer „Entbettung“ des Lebens (disembedding). Darunter versteht er das Herausheben sozialer Beziehungen aus örtlich begrenzten und normativ verfestigten Interaktionszusammenhängen. Zusätzlich wird das Vertrauen in abstrakte Systeme zu einer Voraussetzung für das Funktionieren des Alltags (Giddens 1995).
Granovetter (1985) stellt das untersozialisierte Menschenbild des homo oeconomicus der neoklassischen Ökonomie und einer von sozialen Beziehungen entbetteten kapitalistischen Produktion auf der einen Seite dem übersozialisierten Strukturalismus der Soziologie und dessen Verständnis eines in Verwandtschafts-, Nachbarschafts- und Freundschaftsbeziehungen eingebetteten Warenaustauschs auf der anderen Seite gegenüber. Er argumentiert, dass letztlich alle ökonomischen Transaktionen auf sozialen Beziehungen beruhen und es daher nicht um die Frage geht, ob ein Produktionssystem in soziale Beziehungen eingebettet ist oder nicht, sondern um den Grad und die Art der sozialen Einbettung. Auch unterstreicht er die Bedeutung sozialer Beziehungen für die Schaffung von Vertrauen als Voraussetzung für ökonomische Transaktionen (Granovetter 1985).
In einem gewissen Widerspruch zu Granovetters Argument, dass alle Produktionssysteme sozial eingebettet seien, werden alternative Lebensmittelsysteme, wie Lebensmittelkooperativen, → solidarische Landwirtschaft oder kurze Bio-Wertschöpfungsketten (→ Wertschöpfungsketten), auch als „Wiedereinbettung“ der Lebensmittelversorgung in regional verankerte soziale Beziehungen interpretiert (Raynolds 2000; Hinrichs 2000; Murdoch et al. 2000; Barham 2003; Penker 2006; Morris und Kirwan 2011). Hinrichs (2000) wiederum fordert mit Verweis auf Granovetter (1985), das Konzept differenziert zu verwenden und Einbettung nicht als freundliche Antithese zum Markt zu simplifizieren. Dieses Kapitel folgt Granovetters Argumentation und diskutiert globale und regionale Lebensmittelsysteme entlang unterschiedlicher Gradienten sozialer Einbettung, anstatt sie als entbettet und (wieder) eingebettet gegenüberzustellen.
Demnach gliedert sich dieses Kapitel in drei Teile. Nach einem Einblick in die Globalisierung und die damit einhergehende graduelle Entbettung der Lebensmittelproduktion aus ihrem sozialen, regionalen und ökologischen Kontext widmen wir uns der → Regionalisierung und der stärkeren Wiedereinbettung von Produktions- und Konsumvorgängen in soziale und ökologische Strukturen konkreter Regionen. Zum Abschluss diskutiert dieses Kapitel die wechselseitige Dynamik und Kontinuität zwischen mehr oder weniger eingebetteten Lebensmittelsystemen und greift geografische Herkunftsangaben als Mischform auf, die die Einbettung der Lebensmittelproduktion in regionale Strukturen mit dem internationalen Handel verknüpft.
3.2 Globalisierung – Lebensmittel mit loser Einbettung
Die Globalisierung ist eine vielschichtige Entwicklung, die – je nach Standpunkt und Begriffsverständnis – einige Jahrzehnte, eineinhalb Jahrhunderte oder ein halbes Jahrtausend zurückreicht; eine ihrer Facetten sind die zunehmenden internationalen Verflechtungen entlang der Wertschöpfungskette. In funktionaler Hinsicht besteht die Lebensmittelwertschöpfungskette aus den Stufen der landwirtschaftlichen Produktion, der Verarbeitung, des Handels und des Konsums, welcher in den Haushalten selbst oder außer Haus erfolgen kann. Zur erweiterten Wertschöpfungskette zählen zudem noch Inputs wie Saatgut, Energie oder Mineralstoffdünger sowie Outputs wie Abwässer, Abfälle und Abgase (siehe Abb. 3.1).
Globalisierte Warenketten (→ Wertschöpfungskette) verbinden Wertschöpfungsstufen in verschiedenen Ländern, häufig auch auf unterschiedlichen Kontinenten. Der Warenaustausch entlang globalisierter Ketten erfolgt in der Regel über anonymisierte Austauschbeziehungen; soziale Beziehungen zwischen den AkteurInnen der Wertschöpfungskette treten in den Hintergrund bzw. führen aus der Perspektive der Ökonomie höchstens zu verpönten Preisabsprachen oder anderen Wettbewerbsverzerrungen (Granovetter 1985). Die ökologischen und sozialen Produktionsbedingungen global gehandelter Lebensmittel sind für die KonsumentInnen, wenn überhaupt, nur über Labels oder die von Unternehmen selektiv bereitgestellten Informationen nachvollziehbar.
Abb. 3.1: Lebensmittelwertschöpfungskette (eigene Darstellung in Anlehnung an Strecker et al. 1996)
Die folgenden Abschnitte gehen auf drei wesentliche Triebfedern der Globalisierung ein: technische Innovationen, Liberalisierung des Welthandels und die Nachfrage einer wachsenden Bevölkerung nach ganzjährig verfügbaren, günstigen und vielfältigen Produkten. Im Anschluss widmen wir uns den Voraussetzungen und Folgen globalisierter Lebensmittelsysteme.
3.2.1 Triebkräfte der Globalisierung
Technische Innovationen
Seit Tausenden von Jahren gibt es transkontinentale Handelswege für den Austausch wertvoller Gewürze. Der zunächst mit Zugtieren betriebene Transport über Land und Kanäle wurde im 19. Jahrhundert durch dampfbetriebene Lokomotiven und Hochseeschiffe ergänzt und schließlich weitgehend durch den motorisierten Massentransport auf der Straße, den Weltmeeren und in der Luft abgelöst. Erst diese technischen Innovationen und die damit in Verbindung stehende Verbilligung des Transports haben den Handel großer Mengen und vielfältiger Lebensmittel ermöglicht.
Abb. 3.2: Handel ermöglicht die Spezialisierung von Regionen auf spezifische Produkte (erste Phase der Globalisierung)
Durch den Austausch