Abb. 3.4: Anteil des Haushaltseinkommens (in %), welcher 2014 für zu Hause konsumiertes Essen ausgegeben wurde (ERS 2017)
Während in vielen Teilen Europas immer weniger für Lebensmittel ausgegeben wird, die zu Hause konsumiert werden, steigt der Außer-Haus-Konsum. Dieses Phänomen wird u. a. mit Veränderungen in der Arbeitswelt und dem Wandel der Genderrollen erklärt. Der Anteil außer Haus konsumierter Lebensmittel ist tendenziell in nordeuropäischen Ländern höher als in jenen des Südens und beträgt zwischen 11 % und 28 % der nahrungsbezogenen Energie (Orfanos et al. 2007). Der steigende Anteil des Außer-Haus-Konsums verdrängt das Kochen daheim und trägt auch dazu bei, dass KonsumentInnen noch weniger nachvollziehen können, wer wo an der Produktion, Verarbeitung und Zubereitung ihrer Nahrung beteiligt war. Man denke an zentrale Großküchen, die gleich mehrere Krankenhäuser, Altersheime, Kindergärten, Gefängnisse, Flüchtlingsheime oder Schulen mit Essen beliefern.
In vielen Gastronomiebetrieben hat sich eine standardisierte ‚Weltküche‘ durchgesetzt. Global agierende Gastronomieunternehmen und fast-food-Ketten versuchen weltweit ähnliche Produkte unter vereinheitlichten Herstellungsbedingungen mit möglichst standardisierter Qualität und Präsentation zu vertreiben und tragen so zu einer Homogenisierung von Ernährungskulturen bei. Gleichzeitig profitieren westliche KonsumentInnen vom vielfältigen Angebot ganzjährig verfügbarer Waren, die sonst aufgrund klimatischer Bedingungen oder durch Ernteausfälle gar nicht oder nur saisonal erhältlich wären.
3.2.2 Standardisierung, Dokumentation und Kontrolle statt Vertrauen
Entlang globalisierter Wertschöpfungsketten gehen Lebensmittel durch die Hände zahlreicher den KonsumentInnen nicht persönlich bekannter ProduzentInnen, deren Standorte oft weit voneinander entfernt liegen. Langfristige, auf Vertrauen und auf Gegenseitigkeit im sozialen Austausch (Reziprozität) angelegte Beziehungen zwischen den Unternehmen sowie mit den KonsumentInnen treten in den Hintergrund. Aus der Perspektive des neoliberalen Paradigmas scheinen soziale Beziehungen jenseits reiner Marktbeziehungen mitunter sogar wettbewerbshinderlich (z. B. Preisabsprachen). Rationale, auf Eigennutz ausgerichtete und am Gewinn orientierte individuelle Unternehmensentscheidungen gelten als Voraussetzung für einen funktionierenden Markt (Granovetter 1985).
Unterschiedliche regional geprägte Wuchsformen, Größen, Geschmacksnoten, Qualitäten etc. erschweren die auf Effizienz und Flexibilität ausgerichteten Transaktionen entlang langer Warenketten mit zahlreichen einander und den KonsumentInnen nicht persönlich bekannten Marktteilnehmern. Entlang globalisierter Wertschöpfungsketten werden daher bevorzugt standardisierte Massenwaren (commodities) mit homogener Qualität gehandelt, die von regionalen Besonderheiten bereinigt ist. Nur so können Händler commodities auf Börsen handeln, ohne die Ware jemals persönlich zu sehen, anzugreifen oder zu prüfen.
In sozial weniger eingebetteten und langen Warenketten, die durch eine Vielzahl einmaliger Transaktionen charakterisiert sind, lässt sich Fehlverhalten kaum verorten und Konsumentenvertrauen schwer aufbauen. Damit der internationale Warenaustausch zwischen individuell und weitgehend isoliert agierenden MarktteilnehmerInnen dennoch funktionieren kann, sollen abstrakte Systeme der Lebensmittelsicherheit (→ Nahrungsmittelsicherheit) mit einheitlichen und klaren Standards, Aufzeichnungspflichten, Etikettierungsregeln und Rückverfolgbarkeitsmechanismen sowie staatliche Kontrolle die Qualität sichern und Fehlverhalten verhindern. Diese Regulative substituieren das Vertrauen, das viele KonsumentInnen – zu Recht oder Unrecht – ihnen persönlich bekannten LebensmittelproduzentInnen entgegenbringen. So können Sicherheit und Qualität auch für jene Lebensmittel vermittelt werden, die durch die Hände unzähliger einander und den KonsumentInnen nicht persönlich bekannter AkteurInnen in unterschiedlichen Ländern und Kontinenten gehen.
Über staatliche Lebensmittelvorschriften hinausgehende Qualitätsstandards werden in komplexen Zertifizierungssystemen garantiert, durch unabhängige Kontrollstellen überprüft und durchgehend bis zu den KonsumentInnen dokumentiert und kommuniziert (z. B. Biolandbau und Fair Trade). Branchenstandards, d. h. zwischen Agrar- und Lebensmittelunternehmen vereinbarte Regeln zur Hygiene- und Qualitätssicherung, ergänzen staatliche Reglementierungen.
Auch mit ausgefeilten Kontrollsystemen lassen sich Lebensmittelskandale nicht gänzlich verhindern (siehe Abschnitt 5.6). In betrügerischer Absicht neu etikettierte Produkte (Stichwort „Gammelfleisch“ oder Pferdefleischskandal) bzw. mit Pestiziden oder pathogenen Keimen verunreinigte Lebensmittel gelangen immer wieder in die Supermarktregale, in private Kühlschränke, in den menschlichen Körper und schließlich in die Schlagzeilen.
3.2.3 Globalisierungsfolgen und Kritik
Die Handelsbedingungen sind nicht für alle Länder gleich. Entwicklungsländer (→ Globaler Süden) können aufgrund von Handelsbeschränkungen oder von Industrieländern einseitig definierten Standards die Chancen der Globalisierung nur sehr beschränkt nutzen. Zudem steht ihre Agrarproduktion unter dem Konkurrenzdruck subventionsgestützter Billigimporte aus Industrieländern. Während die Rohstoffproduktion oft in Ländern mit niedrigen sozialen und ökologischen Standards angesiedelt ist, bleiben die lukrativeren Verarbeitungsschritte den Industrieländern vorbehalten (z. B. die Röstung und Mischung von Kaffeesorten unterschiedlicher Herkunft oder Verarbeitung von Kakao zu Schokoriegeln). Die Markenbildung bei Lebensmitteln wie Kaffee, Schokoriegeln oder Cerealien erfolgt vorwiegend ohne Bezug zum Ort der landwirtschaftlichen Produktion und der Mehrwert der Marke bleibt in der Regel in den reichen Ländern des Nordens. Das ‚freie Spiel der Kräfte‘ auf ‚liberalisierten‘ – d. h. durch WTO und multinationale Konzerne re-regulierten – Märkten führt zu neuen Formen der Ausbeutung benachteiligter Länder: Landraub, Patentierung genetischer Ressourcen, Vertragslandwirtschaft.
Als Folge der Globalisierung geriet aber auch das regionalwirtschaftliche, soziale und agrarökologische Gefüge vieler ländlicher Regionen Europas unter Druck. Europaweit ist seit den 1970er Jahren ein starker Rückgang der landwirtschaftlichen Betriebe zu verzeichnen. Wachstums- und Spezialisierungsprozesse kennzeichnen die Mehrheit der verbliebenen Betriebe. Flächen, die nur manuell oder unter großem Aufwand zu bewirtschaften, weniger produktiv und abgelegen sind, werden aufgegeben. Das hat weitreichende Folgen für das Landschaftsbild und die Agrarökosysteme, welche sich in einer Koevolution mit der landwirtschaftlichen Bewirtschaftung entwickelt hatten (siehe Kapitel 4). Zivilgesellschaft, Politik und Wissenschaft problematisieren den Verlust von Landschaftsvielfalt, → Biodiversität und kultureller Vielfalt sowie eine Homogenisierung von Ernährungskulturen.
Die ‚Liberalisierung‘ der Agrarmärkte hat Betrieben der Agrar- und Ernährungswirtschaft einerseits größere Entscheidungsspielräume und neue Märkte eröffnet, sie andererseits direkt mit den Risiken schwankender Weltmarktpreise konfrontiert. Auch wenn die Menge weltweit gehandelter Agrargüter anteilsmäßig gering ist, etablieren sich Weltmarktpreise, die auch auf die lokalen Agrar- und Lebensmittelmärkte rückwirken. Sinkt die Nachfrage nach Milchprodukten in Russland oder China, so fallen auch die Milchpreise in Europa. Durch die ‚Liberalisierung‘ der Agrargüterpreise müssen sich auch europäische Betriebe auf stark schwankende Preise einstellen. Zudem hat die ‚Liberalisierung‘ weitere Optionen für Spekulationen auf Rohstoff- und Agrarbörsen eröffnet (siehe Box 3.2).
Box 3.2: Tortilla-Krise (Keleman und Rañó 2011)
Am 31. Jänner 2007 wandten sich in Mexiko Zigtausende Demonstranten gegen die teilweise Vervierfachung des Tortillapreises. 50 Mio. Mexikaner konsumieren täglich über 600 Mio. Tortillas. Die aus Maismehl produzierte Tortilla ist nicht nur für die ärmere Bevölkerung Mexikos ein wesentlicher Kalorienlieferant, sondern auch wesentlicher Teil der mexikanischen Kultur. Das