2.2 Nahrungsregime als Leitkonzept
Wir folgen dem von Harriet Friedmann und Philipp McMichael (1989) geprägten Konzept des Nahrungsregimes (food regime), einer Anwendung von Weltsystemanalyse (Wallerstein 2004) und Regulationstheorie (Boyer und Saillard 2002) auf Landwirtschaft und Ernährung. Ein Nahrungsregime umfasst das dauerhafte Zusammenspiel von Wertschöpfungskonzentration („Akkumulation“) und Steuerung („Regulation“) entlang transnationaler Warenketten (→ Wertschöpfungskette), die von der Produktion über die Distribution bis zum Konsum (einschließlich der Entsorgung) von Nahrung reichen. Zwischen den mehrere Jahrzehnte langen Regimephasen liegen oft durch Wirtschaftskrisen oder Staatenkonflikte hervorgerufene Übergänge, die alte, widersprüchlich gewordene Akkumulations- und Regulationsweisen durch neue, in sich stimmigere Regime überwinden. Die Literatur unterscheidet drei globale Nahrungsregime: das erste, UK-zentrierte oder extensive food regime von den 1870er bis zu den 1920er Jahren, das zweite, US-zentrierte oder intensive food regime von den 1940er bis zu den 1970er Jahren und das dritte, WTO-zentrierte oder corporate food regime seit den 1990er Jahren. Jedes Nahrungsregime zeichnet sich durch ungleiche Tausch- und Machtbeziehungen zwischen Zentren und (Semi-)Peripherien innerhalb des Weltsystems aus (McMichael 2009, 2013; Atkins und Bowler 2001, 23 ff.; Magnan 2012; Le Heron 2013; Bernstein 2016).
Zu den Stärken des Nahrungsregime-Konzepts zählen erstens die Verbindung von Produktions- und Konsumfragen, zweitens die transnationale, den Nationalstaat als Untersuchungsrahmen überwindende Ausrichtung und drittens die zieloffene, nicht auf einen Endzustand verengte Entwicklungsperspektive. Dem stehen einige Schwächen des anfänglichen Konzepts gegenüber: erstens der Westzentrismus, der den ‚Rest der Welt‘ an den Rand rückt; zweitens der Soziologismus, der ökologische Dimensionen ausblendet; drittens der Strukturfunktionalismus, der die Denk- und Handlungsmacht von Akteuren unterbelichtet. Um diese Schwächen zu überwinden, suchen aktuelle Ansätze vor allem postkoloniale, sozialökologische und akteurorientierte Perspektiven zu stärken (Langthaler 2015, 2016c).
2.3 Nahrungsregime vor der Globalisierung
Nahrung ist ein für Menschen existenzielles, aber knappes – und daher umkämpftes – Gut. Folglich suchen Gesellschaften seit der Einführung von Ackerbau und Viehzucht in verschiedenen Weltregionen vor zwölf bis drei Jahrtausenden („neolithische Revolution“) den Ressourcenfluss zwischen Landwirtschaft und Ernährung nach bestimmten Maßstäben zu regeln – und errichten auf diese Weise Nahrungsregime mit regionaler oder überregionaler Reichweite. Während die Angehörigen von Agrargesellschaften überwiegend selbstproduzierte Nahrung konsumierten, traten in Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften Nahrungsproduktion und -konsum auseinander; damit gewann die Distribution von Nahrung an Stellenwert. Der Handel mit großen Mengen an Grundnahrungsmitteln (Weizen, Mais, Reis usw.) blieb in den europäischen Agrargesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit aufgrund beschränkter Energie- und Transportkapazitäten auf kleine Räume und begünstigte Standorte an Flüssen oder Seehäfen beschränkt; die Märkte waren meist regional segmentiert (siehe Kapitel 3; Tauger 2011; Pilcher 2006; Flandrin und Montanari 1999; Kiple und Ornelas 2000; Cerman et al. 2008).
Freilich verbreiteten sich auch in vorindustrieller Zeit Nutztiere und Kulturpflanzen über die Grenzen von Regionen, Reichen und Kontinenten hinweg. Die Expansion europäischer Seemächte in die „Neue Welt“ nach der Landung der Spanier unter Christoph Kolumbus in Amerika 1492 auf der Suche nach einer Westroute nach Indien – als Alternative zum schwer kontrollierbaren Landweg in Richtung Osten als Lebensader des eurasischen Gewürzhandels – fachte den wechselseitigen Transfer von Tier- und Pflanzenarten an („Kolumbianischer Austausch“). So etwa gelangten Maisund Kartoffelpflanzen über den Atlantik nach Europa, wo sie jedoch zunächst nur in den Gärten von Schlössern und Klöstern gezogen wurden. Erst im 18. und 19. Jahrhundert verbreiteten sich Mais und Kartoffeln im Zuge wiederkehrender Hungerkrisen und obrigkeitlicher Förderung, vor allem unter der ärmeren Bevölkerung, als Grundnahrungsmittel (Crosby 1990). In die Gegenrichtung wanderte – neben europäischen Infektionskrankheiten, denen die indigenen Völker Amerikas mangels Abwehrkräften massenhaft erlagen – das von Indien in den Mittelmeerraum vorgedrungene Zuckerrohr. Der Zucker und seine Produkte standen vom späten 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert im Zentrum des atlantischen Dreieckshandels (siehe Box 2.1).
Box 2.1: Zucker im Zentrum des atlantischen Dreieckshandels
Der Atlantische Ozean bildete seit dem 16. Jahrhundert das wichtigste Operationsgebiet der militärischen und kommerziellen Expansion europäischer Seemächte. Da die indigene Bevölkerung Amerikas weitgehend dezimiert war, mobilisierten die Kolonisatoren Arbeitskräfte aus anderen Weltregionen. So begannen europäische Handelsunternehmen an der westafrikanischen Küste in großem Umfang Waffen, Metallwaren und Textilien gegen gefangene AfrikanerInnen zu tauschen. Nach der Überfahrt über den Atlantik – bis 1870 wurden etwa 10 Mio. Menschen verschifft – veräußerten sie in der Karibik die zur Plantagenarbeit bestimmten SklavInnen gegen Rohrzucker, den daraus gebrannten Rum und andere Waren. Schließlich verkauften sie ihre Schiffsladungen in England und anderen Küstenstaaten Europas, wo der karibische Zucker – in Kombination mit dem indischen Tee – als billiger Kalorienlieferant für die wachsende Industriearbeiterschaft diente. Auf diese Weise schuf der atlantische Dreieckshandel Wirkungsketten zwischen westafrikanischen Dörfern, karibischen Plantagen und europäischen Arbeiterküchen (Mintz 1985).
Afrikanische Sklaven bei der Arbeit auf einer Zuckerplantage auf der Karibikinsel Antigua 1823 (Wikimedia Commons)
Der atlantische Dreieckshandel umfasste bereits Elemente eines globalen Nahrungsregimes: die Akkumulation von Gewinnen und die Regulation von Warenflüssen – einschließlich der zu ‚Waren‘ degradierten Menschen aus Afrika – zwischen mehreren Kontinenten durch europäische Handelsunternehmen. Doch ein Kernelement fehlte ihm: globale Märkte für Grundnahrungsmittel. Erst Dampfmaschine und Telegraf als Technologien der industriellen Revolution befeuerten ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine Transport- und Kommunikationsrevolution, die die Welt gleichsam schrumpfen ließ (time-space compression; Harvey 1990, 284 ff.). Nun wurde auch der großvolumige Agrarhandel zwischen europäischen Nationalstaaten und davon abhängigen Gebieten in Übersee erschwinglich. Damit entstanden erstmals transkontinentale Märkte für Grundnahrungsmittel. Zwar hatten Tier- und Pflanzentransfers bereits seit Jahrtausenden und verstärkt ab dem „Kolumbianischen Austausch“ verschiedene Kontinente miteinander verflochten; doch erst ab den 1870er Jahren erfasste die Globalisierung Landwirtschaft und Ernährung im großen Umfang (siehe Kapitel 3; Langthaler 2010, 2016c; Kaller-Dietrich 2011).
2.4 UK-zentriertes Nahrungsregime (1870er–1920er Jahre)
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstand um das Vereinigte Königreich (United Kingdom, UK) ein globales Nahrungsregime, das die wachsenden Industriezentren der Britischen Inseln und Kontinentaleuropas mit Grundnahrungsmitteln aus agrarischen Randlagen außerhalb des Kontinents versorgte. Getreide und, nach Entwicklung der Kühltechnik, Gefrierfleisch gelangten aus den klimatisch gemäßigten Siedlerkolonien Nord- und Südamerikas, Ozeaniens und Zentralasiens mittels Dampfeisenbahn und Dampfschiff auf dem wachsenden Schienen- und Wasserwegenetz (z. B. Suezkanal 1869) in die europäischen Metropolstaaten. Auf dem globalen Getreidemarkt traten vor dem Ersten Weltkrieg Russland, Argentinien und die USA als Hauptexporteure