»das Verhalten betreffend: unkontrollierte Körperhaltungen und -bewegungen, stereotype Verhaltensweisen, sozialer Rückzug usw.43
Solche Beobachtungen haben dazu geführt, dass der Zustand des Redners seit jeher mit demjenigen eines Menschen verglichen wird, der mit einer Gefahr konfrontiert ist. Er spannt seine Muskeln an und hält nach Fluchtmöglichkeiten Ausschau – wie der Steinzeitmensch in der Begegnung mit dem Säbelzahntiger.44
Der englische Terminus stage fright – also „Bühnen-Furcht“ – unterstreicht deutlich den Zusammenhang des Lampenfiebers mit der Distanz zum Publikum.45 Die Bühne trennt Redner und Publikum deutlich voneinander und betont so die Erwartungen an ein perfektes Auftreten, an einen Monolog. Dies lässt aber auch erkennen: Wer in der Lage ist, frühzeitig dialogische Elemente in den Vortrag einzubauen, hat ein wirksames Mittel gegen die Redeangst in der Hand.
Mark Twain berichtet, wie er den Monologcharakter bei seinem ersten öffentlichen Auftritt milderte, indem er eine Handvoll verlässlicher Freunde bat, sich im Publikum zu verteilen und auf lustige Stellen des Vortrags vernehmbar zu reagieren, so dass das Publikum einstimmte. Ein dialogisches Element war damit eingebaut, das den Redner mit Rückmeldungen sicherer machte.46
Dass Lampenfieber entstehen kann, liegt im Übrigen an einer banalen Tatsache des öffentlichen Redens: es ist vorbereitetes – meist auch explizit angekündigtes – Reden. Angst wird entwickelt, weil die Zeit vorhanden ist, Angst aufzubauen. Dies weist aber auch auf einen erleichternden Aspekt hin: Wer vor anderen reden soll, hat Zeit, um sich vorbereiten.
In der Praxis geht es nicht darum, das Lampenfieber zu verlieren, sondern es zu nutzen, als Zeichen dafür, dass das Reden vor und mit dem Publikum eine dankbare Aufgabe und nicht eine lästige Pflicht wird. Claudia Spahn spricht denn auch nicht vom Bekämpfen, sondern vom „Optimieren“ des Lampenfiebers.47
Ein wichtiges Ziel, das sich mit unserem dialogischen Ansatz trifft, ist die Gestaltung einer positiven Beziehung zum Publikum. Für die Redepraxis bedeutet das nicht nur: „Ich habe den Zuhörern etwas zu geben“, sondern auch: „Ich freue mich auf ihre Resonanz.“
3Die erste Herausforderung: der gemeinsame Raum
Öffentliches Reden ist Reden mit Abstand. Deshalb ist das Erste, was uns beschäftigen muss, der Umgang mit dem Raum. Die Rede fängt nicht erst mit den Begrüßungsworten an, sondern mit dem Wahrnehmen des Raums und der Menschen, die sich darin befinden. Noch sitzt du in der ersten Reihe, und einer der Organisatoren spricht seine Begrüßungsworte. Dann übergibt er das Wort an dich, die Rednerin, den Redner. Applaus setzt ein, und du stehst auf. Dein Weg zur Bühnentreppe führt an den Knien der anderen Ehrengäste vorbei. Der Scheinwerfer trifft dich zum ersten Mal. Als du das Rednerpult erreicht hast, ebbt der Applaus ab. Stille. Einige hundert Augenpaare sind auf dich gerichtet.
Noch hast du kein Wort gesagt, aber dein Vortrag hat schon längst begonnen. Du hast die Publikumsreihen überblickt und die Distanzen wahrgenommen. Du hast abgeschätzt, wie laut du reden und in welche Richtungen du blicken musst. Du hast den Raum wahrgenommen.
Zwei Perspektiven
Denn die erste Aufgabe besteht nicht darin, zu sprechen, sondern den Raum wahrzunehmen, den gemeinsamen Raum von Rednerin und Publikum. Den ersten Schritt dazu hast du beim Betreten des Saals getan. Du hast den Raum gesehen, den du mit dem Publikum teilen wirst, und du hast dich darin aus der Besucherposition heraus orientiert. Zwei Perspektiven also: Rednerin und Publikum. Jetzt, wo du auf der Bühne stehst, nimmst du den Raum nochmals in seiner Tiefe, Breite und Höhe wahr. Und zum ersten Mal siehst du die Menschen, die dir zuhören werden, als Gruppe. Du bist in diesem Raum eine Zeitlang die wichtigste Person. Aber ohne die anderen, die da versammelt sind, ist dein Vortrag bedeutungslos. Das muss dir bewusst sein, und diese Menschen und die gemeinsamen räumlichen Verhältnisse musst du wahrnehmen.
Drei Arten, anzufangen
Es lohnt sich, im Detail zu verfolgen, was Menschen in diesem Moment tun – in den Sekunden, die ihrem Vortrag vorausgehen, da, wo die ganze Umgebung noch neu für sie ist und sie zum ersten Mal den Zuhörerinnen und Zuhörern gegenüberstehen.
Die BWL-Professorin macht es so: Sie steigt beschwingt die paar Stufen hoch, die vom Saal in die Mitte der Bühne führen, geht zum Pult und holt sich die Fernbedienung, blickt – immer noch mit dem Rücken zum Publikum – zur Leinwand mit dem Logo der Veranstalter, sagt kurz ins Publikum: „So!“, dreht sich nochmals um, um ihre erste Folie zu kontrollieren, und dann wieder zum Publikum: „Ich begrüße Sie ganz herzlich, es ist nicht eine Studie, die wir gemacht haben, einmal haben wir mehrere gemacht …“ Dabei tut sie mehrere kleine Schritte, erst dann steht sie fest auf beiden Beinen und sagt, dass sie die entscheidende Studie hier zum ersten Mal präsentieren wird.48
Der Gründer und CEO eines Technologie-Multis spaziert in brauner Lederjacke und schwarzer Jeans auf die Bühne, dreht sich in der Mitte zum Zuschauerraum, nimmt dann ein paar Schritte rückwärts, schaut nach links und nach rechts. Noch beim letzten Schritt fängt er zu reden an.49
Beide werden sorgfältig geplante und informative Vorträge halten. Beide haben sich die ersten Worte vorher überlegt. Es ist ihnen klar, wie sie in den Inhalt ihrer Rede einführen. Aber sie alle fangen mit Reden an, bevor sie richtig angekommen sind. Das tun zwar viele; sie reden schon, während sie noch den letzten Schritt tun, also ohne überhaupt auf beiden Beinen dazustehen. Auf diese Weise ist es schwer, das Publikum wahrzunehmen und Kontakt zu ihm zu finden.
Andere reden nicht sogleich, sondern sortieren ihr Manuskript oder tippen auf dem Notebook herum, das vor ihnen liegt. Wieder andere klopfen auf das Mikrofon usw. All diese Handlungen sind zwar möglich, aber sie bringen Redner und Publikum noch nicht zusammen. Der Nachteil: Sie befassen sich nur mit der eigenen Person.
Direkt loszulegen, hilft zwar, den Stress nicht weiter wachsen zu lassen. Das Manuskript zu büscheln oder sich in der Elektronik zu orientieren, hat zwar den Sinn, Ordnung zu schaffen. Wer auf das Mikrofon klopft, weiß zwar, dass die Tonanlage funktioniert. Aber die Leute im Auditorium erleben dabei nur eines: einen Menschen, der sich mit sich selbst beschäftigt. Und der sich noch keine Zeit genommen hat, mit ihnen in Kontakt zu treten.
Wie man es auch machen kann, demonstriert Sebastian P. Schild. Er wird gleich vor 60 SeminarteilnehmerInnen reden. Bisher saß er mit dem Rücken zum Publikum da. Jetzt ist er dran, und er rollt seinen Rollstuhl vor die vorderste Reihe, wendet sich den Leuten zu und stoppt. Da sitzt er nun, aufrecht, mit hängenden Armen. Sieben Sekunden lang sagt er nichts, sondern schaut in den Raum. Er sieht nach rechts, sieht nach links. Und erst dann fängt er an.
Es wird ein fulminanter Vortrag mit viel Interaktion, der die Menschen begeistert. Aber der Anfang war ganz einfach besonnen und konzentriert – konzentriert auf das Publikum und auf den gemeinsamen Raum.50
Den Raum wahrnehmen
Wer die Rednerposition eingenommen hat, soll sich die Zeit nehmen, den Raum und die Menschen darin wahrzunehmen. Vielleicht müssen zunächst technische Probleme gelöst werden – vom Kontrollieren der Fernbedienung bis zum Schluck aus dem Wasserglas. Aber dennoch braucht es zusätzlich eine Pause von wenigstens einigen Sekunden, die man dem Raum und dem Publikum widmet. Dazu gehört Blickkontakt mit einer oder zwei Personen, die vielleicht sogar lächeln. Und dazu gehört das Bewusstsein: Dieser ganze Raum steht mir zur Verfügung.
Die Wichtigkeit des Raums ergibt sich schon aus der Definition der Rhetorik als Lehre vom Reden in der Öffentlichkeit: Die Rednerin begegnet den Zuhörenden an einem Ort, der größer ist, mit weiteren Distanzen als beim alltäglichen Gespräch. Dessen muss sie sich bewusst sein, auf diese Voraussetzungen muss sie eingehen.