Viviane rief: „Einen guten Abend euch!“, und hängte ihren Mantel sowie den von Hanibu an die großen Holznägel neben der Tür. Loranthus sah ihr dabei zu und ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf.
Viviane befürchtete einen neuen hysterischen Anfall – ob Heulen oder Lachen, völlig egal – und stemmte schon mal die Hände in die Hüften. Die Daumen klemmte sie unter ihrem Gürtel fest, damit sie nicht Loranthus samt seinem verdreckten Umhang an den Nagel hängte, und zwar bevor er sie hier vor aller Augen blamierte.
Was starrte er nun schon wieder? Ihre Torques hatte sie doch in ihrer größten Gürteltasche versteckt. Vielleicht wegen ihres Messers im Gürtel, obwohl sie das nur zum Essen benutzte. Natürlich konnte sie auch damit werfen und treffen, und wenn er das wüsste, würde der Angsthase wahrscheinlich im Zickzack hüpfen. Sein Blick huschte jetzt kreuz und quer über ihre Gestalt, als wäre er auf der Suche nach verborgenen Waffen, um sich für die richtige Tischseite zu entscheiden. Wenn sie die Doppelaxt noch auf ihrem Rücken hätte, würde er sich bestimmt nicht mal im selben Raum mit ihr aufhalten wollen. Vorsichtshalber hatte sie die Axt in einer Lasche im Inneren ihres Mantels stecken, sie amüsierte sich auch so schon prächtig über seinen wieder einmal offen stehenden Mund.
Allerdings lag sie mit ihrer Einschätzung völlig falsch, was die Blicke der anderen Männer im Raum bewiesen. Diese waren den Anblick von Essmessern durchaus gewöhnt, sie hatten selbst welche und trotzdem einen offenen Mund.
Viviane trug blaubeerfarbene Hosen, die sich eng an ihre langen Beine schmiegten, darüber ein hellgelbes Hemd. Rechts und links war es mit Blaubeerzweigen bestickt und ging ihr ein Stück über die Hüfte; obwohl einfach geschnitten, kam ihre schlanke Figur darin sehr gut zur Geltung.
Ihre schmale Taille wurde von einem interessanten Gürtel umwickelt – ja, umwickelt. Er bestand aus einer fingerdicken Lederschnur, die sie mindestens siebenmal um ihren Körper geschlungen hatte, was ein hübsch aufgeworfenes Muster ergab – und die Frage, ob dieses seltsame Utensil wohl auch anderen Zwecken diente. Im Moment war es jedenfalls ein breiter Ledergürtel, auf dem rundherum etliche Ledertäschchen aufgereiht waren, rechts hingen noch ein Messer und ein Trinkhorn daran, und in der Mitte glänzte ein kupferner Wolf als Gürtelschnalle. Wer Ahnung hatte, erkannte, dass es kein echtes Kupfer, sondern eine Kupferlegierung war, die eine sehr stabile Haken-Öse-Verbindung aus Eisen tarnte.
Da die Händler die Schnalle genauestens musterten, schob Viviane ihre Hände darüber und freute sich, weil nun Hanibu von oben bis unten beäugt wurde. Sie hatte ihr absichtlich Kleider gegeben, die zu ihrer dunklen Haut passten, und das verfehlte seine Wirkung nicht. Selbstverständlich brauchte sich Hanibu nicht vor begehrlichen Blicken fürchten, die womöglich zu schlechten Taten führten. Niemand würde ihr etwas antun. Zum einen lag das am Ehrgefühl hierzulande, zum anderen waren die Strafen enorm abschreckend und als Loranthus’ Sklavin war sie sowieso tabu. Aber sie sollte ruhig merken, welch erfreulichen Anblick sie bot. Das war gut für ihr Selbstwertgefühl.
„Kommt, Fremde! Setzt euch zu uns an den Tisch!“, rief der blonde Händler auf Griechisch und winkte Loranthus. Er dachte wohl, dieser sei der Anführer des Trios, doch weit gefehlt.
Wie gebannt trottete Loranthus hinter Viviane her und dachte die ganze Zeit an den geschmeidigen Gang eines Rehs – er hatte kürzlich eines beobachtet. Erst, als sich Viviane für die Einladung bedankte und Hanibu auf die Sitzbank drückte, war sein Eindruck einer Begegnung im Wald vorbei; und sobald der Wirt schwungvoll gemusterte Tonteller mit frischem Brot und Hasenfleisch auftischte, wusste Loranthus wieder, wo er war.
„Guter Mann!“, jauchzte er. „Ich bezahle morgen die komplette Zeche, aber heute möchte ich den saftigsten Wein! Beim Dionysos, ich meinte, den besten Wein, den es hier gibt!“
Kaum hatte der Wirt genickt, mutierte Loranthus zum reißenden Löwen und fiel über den Hasen her. Viviane warf ihm einen pikierten Blick zu, bestellte zweimal kräftigen Sud aus Hagebutten und bedeutete Hanibu mittels dezenter Geste, nun sollten auch sie essen. Höchst zivilisiert griff sie ihr Messer, löste einen Brocken Fleisch vom Knochen und reichte das Messer an Hanibu weiter, die in ähnlicher Manier damit hantierte und es dankend zurückgab.
Bevor sich Hanibu dem äußerst zarten Fleisch widmete, tupfte sie mit ihrem Brot ein wenig Bratensoße vom Teller und kaute das saftig-warme Stück mit sichtlichem Genuss. Rasch, aber geziert leckte sie sich die Finger ab und der braunhaarige Händler, der ihr dabei zusah, wurde schlagartig rot, was ihm sehr gut zu Gesicht stand.
Loranthus schien sich für nichts anderes zu interessieren, als das, was zwischen seinen Fingern klemmte. In rasantem Tempo nagte er seinen Hasenschenkel ab, bis nur noch ein sauberer Knochen übrig blieb, und schaute sogar unter dem Brot nach, ob er etwas übersehen haben könnte, bevor er sich damit die Finger und den Bratensaft abtupfte. Seufzend vor Wonne verschlang er auch den letzten nassen Krümel.
Nachdem die Teller abgeräumt waren, verteilte der Wirt die gewünschten Getränke und setzte sich zu ihnen an den Tisch. Seine Frau brachte getrocknete Apfelringe und gesellte sich dazu.
Der blonde Händler, der sie eingeladen hatte, stellte seinen Nebenmann und sich auf Griechisch vor: „Das ist Markus. Er handelt mit Wein aus Mediolanum. Ich bin Angus. Ich pendle immer zwischen Bikurgion und der Küste am Nordmeer.“
Viviane übernahm die Vorstellung ihrer Gruppe, ebenfalls auf Griechisch. Aus Hanibu machte sie eine Nachfahrin der schönen und geheimnisvollen Königin von Saba aus Äthiopien, Loranthus pries sie als Spross einer uralten und hoch angesehenen Händlerdynastie aus Kreta an. Beiden schien ihre Wortwahl sehr zu gefallen, sie wuchsen auf der Sitzbank regelrecht in die Höhe.
Die jungen Händler waren schwer beeindruckt. Markus ging hinter seinem Becher Wein regelrecht in Deckung und seine dunklen Augen schauten verlegen drein. Angus hingegen nickte anerkennend. Forsch strich er sich die blonden Locken aus der Stirn und seine blauen Augen strahlten wie ein wolkenloser Himmel im Sommer. Seine Sitzhaltung, sein schalkhaftes Lächeln … alles an ihm strotzte vor Selbstsicherheit und Kraft, was Viviane vage bekannt vorkam.
„Kommst du auch in das Dorf an der Wesermündung?“, fragte sie und setzte noch hinzu:
„Ihr sagt Wisora zu dem Fluss.“
„Ja, natürlich, das ist meine Heimat.“
„Sehr gut. Dann kennst du wohl auch Finn?!“
Angus’ Augen leuchteten auf. „Das ist mein älterer Bruder! Ich habe seinen Handel übernommen, seit er geheiratet hat und sich als Bauer betätigt. Woher kennst du ihn?“
„Ich bin die Freundin seines Weibes.“
„Oh, die Viviane! Ich habe schon viel von dir gehört. Umia unterhält uns oft mit Geschichten aus eurer Kinderzeit.“ Verschmitzt lächelnd pfiff er durch die Zähne.
Viviane schnaubte. „Da habt ihr ja öfter was zu lachen.“
Angus zog gemächlich einen Apfelring in die Länge und grinste sie frech an. „Ja, dessen kannst du dir sicher sein. Hoffentlich finde ich auch mal so ein gutes Weib wie mein Bruder.“ Sein schelmisches Zwinkern konnte nur eines bedeuten. Viviane schaute demonstrativ woandershin.
„Was gibt es Neues“, stellte der Wirt die obligatorische Frage, und sie war froh über den Themenwechsel.
„Gute Frage“, nuschelte Angus, dem gerade nichts mehr einfiel, außer sich den Mund vollzustopfen.
Loranthus sah rundum, niemand sonst schien etwas Neues zu wissen, aber sollte er gerade diesen Fremden vom Überfall berichten? Viviane nickte aufmunternd. Also holte er tief Luft und fing an zu erzählen. Selbstverständlich rückte er sich dabei – ohne rot zu werden – in ein günstiges Licht und prahlte regelrecht mit seiner verlorenen Schlammschlacht.
Die Reaktionen seiner Zuhörer waren ganz