Die weise Schlange. Petra Wagner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Petra Wagner
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783959665964
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ich meine, wie soll ich denn über die Taschen … ich will ihm ja nicht wehtun!“

      Seufzend nahm Viviane Arions Zügel, führte ihn zu dem umgefallenen Baumstumpf und bedeutete Loranthus, von hier aus aufzusteigen, was er schleunigst tat – der Apfel war nämlich gleich alle und kein Nachschub in Sicht.

      Nach einigem Hängen und Würgen und viel Hilfe von Viviane hatte sich Loranthus endlich auf Arion zurechtgerückt und hockte mehr oder weniger zusammengequetscht dort, wo er hinsollte. Kaum hatte er mit den Füßen nach den Steigbügeln gehangelt, ging es auch schon los. Die großen Taschen scheuerten bei jedem Schritt gegen seine Beine, seinen Rücken, seinen Bauch und seine Arme, die Steigbügel hatte er immer noch nicht erwischt … er machte ein missmutiges Gesicht. Er steckte so fest, dass er ohnehin nicht herunterfallen würde.

      „Besser schlecht geritten als gut gelaufen“, knurrte Viviane und reichte ihm den versprochenen Apfel.

      „Da magst du recht haben, Viviane. Aber wenigstens ist der Sattel, auf dem ich hier sitze, bequem, sehr bequem sogar. War bestimmt teuer, daher vermute ich: Dein Arion ist gar kein Packpferd. Selbstverständlich kann er viel Gepäck tragen, aber du hast ihn hauptsächlich als Taschenberg getarnt, damit er kleiner wirkt und man das edle Ross übersieht.“

      Loranthus lächelte wissend und hob die Hand, um Viviane an einer Erwiderung zu hindern. Ihr erstaunter Blick war ihm Antwort genug und er wollte noch etwas Wichtiges sagen. „Nun, ich möchte mich gerne für deine Hilfe erkenntlich zeigen. Ich habe genug Gold, um dich für deine Mühen zu entlohnen. Zum Glück haben die Räuber mich nicht durchsucht. Ich trage es immer bei mir.“ Zufrieden tätschelte er seinen feisten Bauch.

      „So, so.“ Viviane rümpfte die Nase. Wo der wohl sein Gold versteckt hatte, dass es bei einem Kampf mit Körperkontakt nicht aufgefallen war? Beim Anblick von Loranthus’ süffisantem Grinsen fiel es ihr schlagartig ein: Des Rätsels Lösung war so einfach und gleichzeitig genial. Der feiste Bauch war gar nicht echt!

      „Lass dein Gold stecken. Jeder andere hätte das Gleiche für euch getan. Es ist selbstverständlich für uns Hermunduren, in der Not zu helfen. Aber du darfst gerne die Zeche fürs Gasthaus bezahlen. Wir sind bald da.“

      „Prima.“ Bei dieser verlockenden Aussicht traute sich Loranthus nun doch, in den hässlichen Apfel zu beißen, und wurde prompt für seinen Mut belohnt. Der Apfel schmeckte einfach köstlich und war trotz der vielen Falten noch ziemlich saftig. Er musste sich richtig zusammenreißen, damit er sich den Mund nicht zu voll stopfte. Gut erzogen, wie er war, biss er also hastig noch einmal zu, nur ein winziges bisschen.

      Derart genüsslich mit Kauen und Knabbern beschäftigt, erreichte er den letzten Bissen sowie die nächste Wegbiegung und hätte sich beinahe verschluckt. Raben über Raben stoben vor ihnen auf, ein Wust aus Federn, Krallen, Krächzen, Flattern; Loranthus warf sich die Hände über den Kopf, krümmte sich zusammen, wühlte sich kopfüber in den Taschenberg auf Arions Rücken … auf einmal war der Spuk vorbei, so schnell, wie er gekommen war.

      Loranthus seufzte tief geduckt in seinen Bauch hinein, er war zum Glück heil geblieben. Er saß sogar noch oben auf dem Pferd, das hätte ja auch mit ihm durchgehen können. Doch sobald er sich endlich traute, sich aufzurichten, wünschte er sich die Raben zurück. Rechts und links, ein paar Schritt vor ihm, standen zwei nackte, blutverschmierte Männer wie monströse Wächter, doch sie bewachten nicht den Weg – sie waren schlichtweg tot. Ihr Anblick war grauenvoll. Einstmals mussten es stattliche Männer gewesen sein, das konnte man jedenfalls aus ihrem Körperbau schließen, denn ihnen fehlten die Köpfe, in ihren Brustkörben steckten Speere, ihre Bauchhöhlen waren aufgeschlitzt und absolut leer. Ein einziger Fetzen Fleisch hing von dem rechten Unterleib herunter und baumelte vor sich hin.

      Viviane ritt kommentarlos auf die Toten zu, Arion folgte ihr und Loranthus presste sich eine zitternde Hand auf Nase und Mund, um den Gestank nach Blut und Tod von sich fernzuhalten. Hastig nahm er noch die zweite Hand zu Hilfe, doch seltsamerweise verspürte er keinerlei Drang, die Augen zusammenzukneifen. Im Gegenteil, er redete sich ein, hierzulande herrschten eben raue Sitten, und ließ sich kein Detail entgehen.

      Diese geschundenen, kopflosen Körper standen nicht von selbst. Mit Lederriemen waren sie an Pfähle gebunden und genau so platziert, dass sie zu beiden Seiten den Weg flankierten, durch die Kurve aber spät einsehbar waren. Selbst wenn keine Raben aufgeflogen wären, hätte das Szenario eine schockierende Wirkung auf jeden, der hier ahnungslos des Weges kam. Allein schon diese weit aufklaffenden Bauchhöhlen waren zum Gruseln. Man konnte die Rippenbögen sehen, das blank geputzte Rückgrat und sogar die Knorpel zwischen den einzelnen Wirbeln. Dagegen schienen die anderen Körperteile, bis auf die blutverschmierte Haut, völlig unversehrt - wenn man von den Speeren auf Höhe der Herzen absah, und natürlich von dem Fehlen der Köpfe. Es wirkte schon fast skurril, wie statt der Köpfe die Pfähle emporragten; als hätte sich hier jemand einen bitterbösen Scherz erlaubt. Ein Detail war besonders merkwürdig: Zu beiden Seiten der Pfähle waren Ohren angebunden und zwar genau an der Stelle, wo normalerweise Ohren wären, wenn die Köpfe noch dagewesen wären.

      Loranthus fragte sich, wozu diese explizite Anordnung gedacht war; für bestmögliche Sicht waren sogar besonders dünne Lederriemen zum Anbinden verwendet worden. Wieso stellte jemand so ausdrücklich Ohren zur Schau, wenn der Rest vom Kopf genauso deutlich fehlte?

      Selbst Viviane schien intensiv darüber nachzudenken; sie betrachtete jedes Ohrenpaar auf das Genaueste, bevor sie ihre Stute zu einer etwas schnelleren Gangart antrieb. Loranthus war froh, den Ort des Grauens hinter sich lassen zu können, denn schon hörte er, wie sie wieder anrückten, wie sie flatterten und krächzten, die Raben. Er sah es förmlich vor sich, wie sie an dem lose baumelnden Fleischfetzen zerrten, und nun endlich verspürte er den heftigen Drang, die Augen zu schließen. Während Arion für stetig wachsenden Abstand sorgte, wischte sich Loranthus fahrig übers Gesicht, als könne er die Bilder vertreiben, wenn er nur lange genug die Augen zu ließe. Doch als er es endlich wagte, durch seine Fingern zu spähen, stöhnte er matt auf. Zu etwas anderem hatte er keine Kraft mehr, weil da nun noch mehr Tote waren. Noch mehr verstümmelte Körper, noch mehr Speere, noch mehr Lederriemen, noch mehr Pfähle, noch mehr Ohren … angeordnet zu einem langen, entsetzlichen Spalier.

      Wie abgemessen flankierten sie eine ewig lange Gerade, etwa alle fünfzig Schritt stehende Leichen rechts und links. Loranthus konnte die Augen zupressen, so viel er wollte – er musste mitten durch sie hindurch, und er wusste: Dieses Schreckensszenario würde ihn in seine schlimmsten Träume verfolgen.

      „Ein Dutzend Krieger der Chatten. Stehen erst einen Tag hier, vielleicht auch zwei, aufgrund der letzten Schneeschauer kann ich das nicht genau sagen. Planten offensichtlich einen hinterhältigen Überfall und wurden dabei von unseren Kriegern erwischt. Schau.“ Viviane deutete auf das letzte Paar Ohren.

      Loranthus hatte Mühe, hinzusehen, aber er wollte Viviane nicht enttäuschen. Wenn sie ihm schon die Frage beantwortete, die er sich vor Kurzem selbst gestellt hatte, wollte er es jetzt auch genau wissen.

      „Du meinst, diese zwölf Chattenkrieger wollten jemanden aus dem Hinterhalt überfallen? Sie wurden jedoch entdeckt und stehen nun zur Abschreckung hier?“, würgte er hastig heraus, um nichts anderes herauszuwürgen. „Wurden sie deshalb so hart bestraft?“

      „Garantiert. Wollten sicher einen lohnenden Abstecher über die Grenze machen. Wir Hermunduren sind friedlich, aber unsere Gesetze sind genauso streng wie anderswo auch. Diese Schwachköpfe.“ Viviane spuckte aus. „Haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht.“

      Mit diesen Worten traten die Pferde aus dem Wald heraus und Loranthus atmete auf. Völlig unerwartet hatte sich die Enge des Waldes in weites, offenes Land mit sanft geschwungenen grünen Flächen gewandelt. Ein breiter Fluss schlängelte sich gemächlich dahin und an seinem Ufer stand das angekündigte Gasthaus. Genauer gesagt war es ein Gastdorf mit einem großen Langhaus, einem Lagerhaus auf Stelzen und etlichen kleinen Hütten, die zur Hälfte in der Erde steckten, dazwischen Obstbäume in voller Blüte und saftig-grüne Wiesen. Drei Seiten waren von Hecken umgeben. Die vierte grenzte an den Fluss und wurde von einem dichten Schilfgürtel gesäumt. Es gab sogar einen Anlegesteg für eine Fähre.

      Gleich