„Bloß keine Langeweile aufkommen lassen, unsere Schiffspassagen müssten bald auftauchen“, murmelte sie und lehnte sich noch weiter über die Brüstung hinaus. „Zwei echte römische Beamte. Bin gespannt, wie die beiden aussehen. Und du?“
„Gespannt wie ein Langbogen.“ Merdin verzog das Gesicht zu einem Grinsen, das allerdings immer schiefer geriet und ganz verschwand, sobald er den Kopf hängen ließ.
Viviane schaute nicht hin, sagte jedoch: „Keine Müdigkeit vorschützen, teuerster Bruder.“
Aber Merdin war es langsam müde, wirklich.
Schon hundertmal hatte er versucht, Viviane seine Gefühle zu offenbaren, doch ständig war etwas oder jemand dazwischengekommen. Fünf Tage lang waren sie geritten und geritten. Zwischendurch hatten sie auch mal geschlafen oder etwas gegessen - aber mit Viviane allein zu sein, das war nicht machbar gewesen. Selbst hier, in dieser riesigen Villa, war es schwierig, da sie von ihren Gastgebern oder deren Kindern umgeben waren.
Und gleich, wenn sie auf dem Schiff waren, würde es schlichtweg unmöglich sein.
Was er brauchte, war Zeit. Ein perfekter Augenblick reichte nicht, er brauchte einen perfekten Tag. Schließlich wollte er nicht mit der Tür ins Haus fallen. Er wollte anklopfen, wie es sich gehörte, und um Einlass bitten. Er wollte mit ihr durch den Wald schlendern und im klaren Wasser baden. Er wollte mit ihr im warmen Gras liegen und die Frühlingssonne genießen. Er wollte sie umarmen, streicheln und küssen. Er wollte mit ihr Brot backen, Butter stampfen und Suppe löffeln, er wollte mit ihr ein Haus bauen und Kinder kriegen – aber nein: Sie mussten Römer spielen.
„Fast hundert Jahre alt, eine vierseitige Villa mit Parkanlagen innen und außen. Also ich frage mich wirklich, wie Akanthus das alles fertiggebracht hat“, murmelte Viviane und goss Buttermilch aus einer bauchigen Kanne in zwei Tonbecher.
Merdin beobachtete jede ihrer Bewegungen von seiner bequemen Ruheliege aus und murmelte: „Es ist nicht nur mein Großonkel Akanthus, sondern auch mein Vater und meine gesamte Sippschaft. Du weißt doch, Vivian, wir gehören allesamt dazu.“
„Selbstverständlich weiß ich das. Ich nehme bloß Akanthus, weil ich ihn länger kenne.
Er steht sozusagen stellvertretend für deine gesamte Sippe. Ihr müsst Unmengen an Kontakten haben, sonst wäre das alles hier nicht machbar.“
Begeistert zeigte sie über die Dachterrasse, auf der kleine Tische neben großen Liegen aus Weidengeflecht standen. Die kniehohe Brüstung war mit riesigen Kübeln dekoriert, in denen ganze Wiesen wuchsen. Da sprießten tatsächlich sonnengelbe Primeln, schneeweiße Gänseblümchen, zierliche Gräser, duftende Kräuter und sogar Haselnussbüsche.
„Man hat das Gefühl, am Waldrand zu liegen. Nebenbei kann man sich sonnen und nachdenken.“ Viviane gluckste und drückte Merdin einen der Becher in die Hand. „Zum Beispiel kann man überlegen, warum die Römer immer auf diesen breiten Liegen liegen, die sie Klinen nennen, und auf klinische Sauberkeit beim Essen achten, wo doch jeder weiß, dass sie dabei schiefliegen. Rutsch mal ein Stück, ich will auch so fein essen wie die Römer. Unsere Schiffspassagen sind noch nicht in Sicht und ich würde es gern mal mit diesen interessant kandierten Honignüssen probieren. Ist da Pfeffer dran? Na, egal, vielleicht kann ich danach ja Feuer speien.“
Sie schwenkte eine leuchtend blaue Glasschale mit besagten Nüssen vor sich her und legte sich graziös neben Merdin auf die Kline. Doch obwohl er ausreichend Platz machte und Viviane sogar die Schale abnahm, sprang sie sofort wieder auf, um die Falten ihrer Stola zu richten; angeblich waren sie schief.
Merdin ballte seine Finger zur Faust und stopfte sich Nuss um Nuss in den Mund. Wieder war ihm eine Gelegenheit abhandengekommen. Ob an seiner Seite hier oben auf der Terrasse oder bei der Besichtigung der Villa - sie flatterte hierhin, flatterte dahin; nirgends verweilte sie lange genug. Wie sollte er sie da zu fassen kriegen, geschweige denn in Ruhe mit ihr reden können? Noch nie hatte er sie derart unruhig, ja, sprunghaft erlebt, nicht einmal vor ihren Prüfungen zum Drachenschwert. Selbstverständlich war diese Mission hier etwas anderes und darum ahnte er, was sie derart umtrieb: Sie hatte Angst. Sie fürchtete sich vor dem anstehenden Kampf und ihr graute vor dem, was sie sonst noch auf dem Schiff erwartete.
Vielleicht brauchte sie einfach diese Unruhe nach außen hin, um sich nicht dem Aufruhr in ihrem Innern stellen zu müssen. Womöglich war es gar eine Art Transport von innen nach außen, um Platz zu schaffen für die Ruhe, die sie so dringend benötigte. Es musste schlimm sein für Viviane, warten zu müssen. Ein Schiff vor Augen, auf dem junge Frauen eingepfercht waren wie Vieh, und nicht sofort etwas dagegen unternehmen zu können … das war grauenvoll.
„So, mein teuerster Bruder, alle wieder gut in Schwung.“ Viviane feixte, streichelte sanft die Falten ihrer Stola von einer Schulter zur anderen und schnappte ihm eine Nuss vor dem Mund weg. „Wirklich prima, diese Mission. Römische Küche hab ich schon immer mal probieren wollen. Hm, ganz schön scharf.“
Sie stibitzte Merdin noch eine Nuss und tänzelte zur Brüstung zurück, von wo sie ihren Blick die Straße entlangwandern ließ, an Häusern und Feldern vorbei und wieder zurück bis hinunter zum Hafen. Jedes Schiff, das am Flussufer vor Anker lag, gerade davonsegelte oder einlief, war von hier aus bestens zu erkennen. Jeder Bauer, der sein Feld bestellte, war bestens zu erkennen. Jedermann, der in Londinium ein und aus ging, war bestens zu erkennen.
„Ich kann sogar unsere Leute dahinten vor dem billigen Gasthaus sehen. Sie rollen gerade mit ein paar mir Unbekannten Fässer in einen Schuppen. Es ist wirklich faszinierend, zu sehen, wer zu uns gehört. Und von dieser Dachterrasse aus behält man alles im Blick, als stünde man auf einer Warte.“ Vergnügt schnippte Viviane mit den Fingern. „Wir machen es uns auf einem Wachturm gemütlich. Dem besten landauf, landab.“
„Hm“, brummte Merdin und hielt ihr zwei Nüsse hin. „Das hast du gut erkannt.“
Vor fast hundert Jahren war die Villa erbaut worden, aus bestem Tonziegel, drei Etagen hoch und teuer eingerichtet. Im Moment gehörte dieses Prachtstück römischer Baukunst einem reichen Römer und seiner Gattin. Er gab Lektionen in Rhetorik, sie bewirtschaftete eine Garküche – Caupona, wie die Römer sagten – und ein dazugehörendes Gasthaus mit den besten Zimmern weit und breit.
Das war jedenfalls die offizielle Version für alle, die danach fragten. In Wirklichkeit waren die Besitzer nämlich Druiden der Rechtsprechung und bevor sie in diese Villa gekommen waren, hatten sie sich noch nie gesehen. Sie stammte aus dem Noricum und er aus Iberien. In Britannien führten sie ein neues Leben mitten unter Römern; selbstredend war es von Vorteil, als Druide die Sprache der Latiner zu beherrschen.
Leute aus vielen römischen Provinzen gingen in dem Gasthaus ein und aus. Im unteren Bereich aßen sie römische Speisen und tranken die besten Weine. Im mittleren bewohnten sie die Gästezimmer und im oberen lernten sie, wirklich gute Reden zu halten. Ein Teil des Gebäudes war für Gäste nicht zugänglich, dort lebten die Eheleute mit ihren drei Kindern.
Die zwei jüngeren hatten noch keine Ahnung, dass ihre Eltern gar keine Römer waren. Aber dafür wussten sie, genau wie ihr großer Bruder, dass sie sich sehr gern hatten und haufenweise Sesterzen verdienten, denn mittlerweile hatte es sich im ganzen römischen Imperium herumgesprochen, wie gut man hier, in der britannischen Provinz, versorgt wurde. Für reiche Reisende war es ein Muss, wenigstens eine Nacht zu verweilen.
Viviane schmunzelte vor sich hin und strich sich über ihre feine rosa Seidenstola. Natürlich waren unter den vielen Gästen auch immer mal welche, die es besser wussten: In diesem Hafen wechselten nicht nur Handelsgüter den Besitzer, man konnte auch in den Besitz von Informationen gelangen, und zwar ohne Bezahlung. Es war die gemeinsame Aufgabe, für die es sich lohnte.
„Vivian, Achtung, die Luke geht auf! Ich glaub, die Römer kommen an Deck! Ja, unsere Schiffspassagen sind gleich in Sicht!“
Viviane blinzelte heftig. Jetzt war sie tatsächlich