Ich war innerlich hin- und hergerissen und machte mir Vorwürfe. War ich etwa paranoid, dass ich die Antibiotikakur nicht machen wollte? War es wirklich so, dass in diesem Fall kein Kraut der Krankheit gewachsen war? Ich hatte das Gefühl, dass die Zeit drängte. Jeden Tag – so stellte ich mir vor – breiteten sich die Spirochäten weiter aus und würden Gelenke, Gehirn und andere vitale Organe befallen. Ich las alles, was ich zum Thema finden konnte. Dabei stieß ich im ärztlichen Handbuch für Diagnose und Therapie »Consilium Cedip Practicum« (1995) auf eine Statistik, die besagte, dass 23,8 Prozent der getesteten Waldarbeiter in Deutschland Antikörper gegen die Borreliose aufweisen, ohne überhaupt zu wissen, dass sie jemals infiziert wurden. Eine Studie der American Medical Association (AMA, 1995) stellte fest, dass nur die Hälfte der Patienten mit der Diagnose Borreliose tatsächlich unter Krankheitserscheinungen litt. Das ließ mich Hoffnung schöpfen. Wenn das Immunsystem tatsächlich die Fähigkeit hat, Antikörper gegen diese Spirochäten zu produzieren, dann wäre doch das Naheliegende, das Immunsystem mit allen Mitteln zu unterstützen. Da Antibiotika immunsuppressiv wirken können, also die körpereigene Abwehr dämpfen, schienen sie – so meine Schlussfolgerung – nicht unbedingt das geeignete therapeutische Mittel zu sein.
Das Ende des Antibiotikazeitalters
Antibiotika, wie auch Kortison und Steroide, sind – dessen bin ich mir voll bewusst – heilige Kühe der modernen Medizin. Daran darf nicht gerüttelt werden. Auch Kritiker leiten ihre Überlegungen immer mit dem Eingeständnis ein, dass diese schärfsten Waffen der anerkannten Medizin Millionen von Leben gerettet hätten und dass sie im Notfall unverzichtbar sind. Das mag schon sein. Wurde nicht auch das Leben meines Vaters, der während der Kriegsgefangenschaft in Ägypten fast an der Ruhr gestorben wäre, durch Penicillin gerettet?
Inzwischen aber ist die Frage berechtigt, ob nicht die Kosten des Antibiotikaeinsatzes höher sind als ihr Nutzen. Dabei fing alles so hoffnungsvoll an. 1928 bemerkte der Bakteriologe Alexander Fleming, dass eine Schimmelpilzspore der Gattung Penicillium, die zufällig in eine Petrischale mit einer Staphylokokkenkultur gefallen war, das Wachstum dieser Bakterien hemmte. Das war die zündende Idee: Mit Pilzgiften kann man krankheitsverursachende Bakterien abtöten! Kurz darauf, 1935, entdeckte der Pathologe Gerhard Domagk die antibakterielle Wirkung von Sulfonamiden, die gegen grampositive und gramnegative Bakterien sowie gegen Chlamydien und Protozoen wirksam waren.
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs erlangten die Antibiotika ihre volle Bedeutung. Die Seuchen, die seit je den Soldaten zusetzten – Wundinfektionen, Geschlechtskrankheiten –, schienen für immer aus der Welt geschafft. Eine euphorische Stimmung machte sich breit. Man hatte die Nazis besiegt, und nun würde man auch die Bakterien endgültig besiegen. Wissenschaftliche Koryphäen kündeten gar das Ende aller Krankheiten für die Menschheit an. Der amerikanische Generalstabsarzt William Steward verkündete Ende der sechziger Jahre vor dem US-Kongress: »Das Kapitel der Infektionskrankheiten ist ein für allemal abgeschlossen. Pocken und Polio sind eliminiert; Malaria und Tuberkulose sind auf dem Weg dahin« (Buhner 2002: 117). Ich kann mich gut erinnern, wie der Lehrer in der Primarschule in Ohio uns Kindern erzählte, dass es bei der Jahrtausendwende im Jahr 2000 dank des Penicillins keine Krankheiten mehr und dank der Kernkraft keinen Energiemangel mehr geben würde.
Niemand stellte das Dogma in Frage, dass Bakterien die Verursacher von Krankheiten und Seuchen sind. Das offizielle Denkmodell der damaligen Zeit war rein sozialdarwinistisch: In der Natur herrscht auf allen Ebenen erbitterter Überlebens- und Konkurrenzkampf: Mensch gegen Bakterien, Schädlinge gegen Pflanzen, Parasiten gegen Nutztiere. Dieser Kampf war ein manichäistischer9, ein Kampf von Gut gegen Böse. Bakterien waren eindeutig auf der Seite des Bösen, wie etwa Giftschlangen, Wölfe oder die Feinde der Demokratie und des Fortschritts. In der zunehmend säkularisierten westlichen Welt nahmen diese für menschliche Augen unsichtbaren Kleinstlebewesen die Stelle des Teufels und seiner Dämonenschar ein. Und wer zu den Guten gehört, der schließt mit dem Teufel keinen Kompromiss!
Dieses Denken setzte sich auch bei der Schädlingsbekämpfung in der Landwirtschaft durch: DDT, Malathion, Lindan und andere Chemiegifte sollen die Nutzpflanzen schützen, andere Gifte, die Herbizide, sollen die Unkräuter vernichten. Auch in der Politik fand das Denkmuster seinen Platz: Im Ersten Weltkrieg wurde von beiden Seiten Giftgas gegen »menschliche Schädlinge« eingesetzt; im Zweiten Weltkrieg waren es Flächenbombardierung, Vernichtungslager und die Atombombe, die dazu dienten, das Böse auszurotten. Im Kalten Krieg wurden ABC-Waffen entwickelt, um den Bazillus des Bolschewismus oder, je nach Gesichtspunkt, den Bazillus des Kapitalismus auszuschalten. Heute sind es die unberechenbaren Terroristen, die ähnlich wie die Bakterien und Viren im Körper heimtückisch, hinterhältig und getarnt in der globalen Welt einen unfairen, asymmetrischen Krieg führen.
Bakterien als kleine Teufel chm. Viktorianische Darstellung, London, 1858.
Diesem Denkmuster entsprechend bedient sich der antibiotische Krieg gegen die Mikroorganismen fast ausschließlich einer militärischen Sprache: Es wird auf Symptome eingeschossen; es gibt Invasionen der Keime; der Körper ist ein Schlachtfeld; Killerzellen attackieren Fremdzellen, Fresszellen erledigen die Aufräumarbeiten nach erfolgter Abwehr, und die Ärzte stehen an vorderster Front. Es gibt Gegenangriffe und Siegeszüge; Erreger werden bestrahlt, bombardiert, vernichtet; Abwehrsysteme werden gestärkt, und mit genügend (finanzieller) Unterstützung wird es eines Tages gelingen, die Infektionskrankheiten auszurotten.
Der angebliche Feind, die Mikroorganismen, sind die größte Gruppe von Lebewesen auf Erden. Und die älteste! Seit 3,5 Milliarden Jahren leben sie schon auf diesem Planeten. Sie sind außerordentlich anpassungsfähig und vielseitig und keineswegs so primitiv, wie wir glauben. Sie erhalten die Bodenfruchtbarkeit, und ohne sie gäbe es kein Leben auf Erden. Sie sind die Vorfahren aller mehrzelligen Organismen. Sie sind auch unsere Vorfahren. Wahrscheinlich waren die Chloroplasten, die kleinen grünen Körper in den Pflanzenzellen, welche die Lichtenergie der Sonne aufzunehmen vermögen, einst ebenfalls freilebende Mikroorganismen. Auch die Mitochondrien, die in tierischen und pflanzlichen Zellen für die Sauerstoffatmung verantwortlich sind, und die Plasmiden, die einen Teil der Erbinformation weitergeben, waren ursprünglich Bakterien, die irgendwann in Zellen integriert wurden (Dixon 1998: 27).
Überall auf dem Planeten verdauen Bakterien und andere Kleinlebewesen die sich immer wieder ansammelnde Biomasse – um die 400 Milliarden Tonnen jährlich – und setzen die daraus entstehende Energie erneut frei. Ohne die Zellulose abbauenden Bakterien in ihren Mägen könnten Büffel, Schafe und Rinder Laub und Gras nicht verdauen. Mikroben befallen alles, was im Absterben begriffen ist und Lebenskraft verströmt: Herbstlaub, Kot, Kadaver, krankes Gewebe. Das ist ihre wichtigste Aufgabe im ganzheitlichen Gefüge der Natur: Sie bewerkstelligen den notwendigen Abbauprozess (Storl 2001: 203). Diesen Prozessen entgeht auch der Mensch nicht; auch wir sind Teil des natürlichen Kreislaufs von Leben und Tod, Aufbau und Abbau. Nimmt unsere Lebenskraft durch ungünstige Lebensumstände (Alter, Fehlernährung, Umweltgifte, Bestrahlung, Medikamentennebenwirkungen, Stress oder – auch das hat eine immunsuppressive Wirkung – Verlust der Daseinsfreude und des Lebenssinns) ab, dann wird der Boden bereitet für die abbauenden Bakterien, die uns dabei helfen, uns unserer Inkarnation zu entledigen.
Billionen Bakterien – mehr als es je Menschen auf Erden gab oder geben wird – besiedeln unseren Körper. Pro Körperzelle sind das zehn Mikroorganismen (Blech 2000: 23). Da sie sich meistens als friedliche und hilfreiche Mitbewohner erweisen, sind wir uns