Man möchte sich ausmalen, wie es Lukas dabei zumute war, dem Erfinder, der sich als Chronist ausgab. Hatte er Skrupel, weil er letztlich nicht die Wahrheit sagte? Oder ist das wieder eine neuzeitliche Vorstellung? Glaubte er überhaupt, dass Theophilus ihm das Mythologische als historisch abnahm? Oder war er eher stolz darauf, ein Stück Mythologie geliefert zu haben, das die wirklichen Tatsachen perfekt in Szene setzte? Niemand weiß es.
Matthäus
Dabei hat Lukas einiges nicht erzählt, ohne dessen Kenntnis die heutige Weihnachtsfestzeit nicht vorstellbar ist: Weder die Anbetung der Heiligen Drei Könige noch der betlehemitische Kindermord kommen bei ihm vor. Es hat also einen zweiten Geschichtenerfinder im Zusammenhang mit Weihnachten gegeben, einen von Lukas unabhängigen. Dies war der Evangelist Matthäus, nicht zu verwechseln mit dem Apostel Matthäus, der in der frühen Kirche allerdings auch als Verfasser des Evangeliums angesehen und aus diesem Grund immer als der erste Evangelist den anderen vorangestellt wurde – sozusagen als Berichterstatter aus erster Hand. Aber auch dieser Evangelist bezieht sich viel zu stark auf Markus, um als selbständig gelten zu können. Natürlich hat man sich auch bei ihm gefragt, ob er zunächst Jude oder Heide war. Weil er nicht nur das Alte Testament sehr gut kennt, sondern auch die jüdischen Traditionen und nicht zuletzt verhältnismäßig schlechtes Griechisch schreibt, hat man ihn mehrheitlich als ursprünglichen Juden angesehen. Dabei ist auch Matthäus ein Befürworter der Völkermission, er könnte in Syrien bzw. der Hauptstadt Antiochia mit ihrer hellenistischen Umgebung gelebt haben. Auf jeden Fall schrieb er ungefähr zur gleichen Zeit wie Lukas, also nach 70, dem Jahr der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Römer, was Matthäus ausdrücklich als gerechte Strafe für den »Mord« an Jesus ansah – vom ausgeprägten Antijudaismus gerade dieses Evangelisten war schon die Rede.
Theoderich von Prag: Der Evangelist Matthäus, 1360–64
Einen Hinweis auf das Programm, das Matthäus mit seinem Evangelium verbindet, kann man der Überschrift entnehmen, wo die Rede ist vom »Buch des Ursprungs Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams«. Darin liegt zunächst einmal eine Imitation des Alten Testaments, wo das 1. Buch Genesis ebenfalls eine »Liste der Geschlechterfolge« von Adam bis Noah bietet. Matthäus aber kommt es auf Jesus an, den Erlöser, und er verortet ihn geradezu programmatisch in der Tradition des Judentums mit David als erstem König und Abraham als Ahnherr der Israeliten. Dann folgen in einer Liste die Söhne Abrahams im Einzelnen, auch vier Ehefrauen. Das Ganze endet (nach dreimal vierzehn Generationen) bei Josef, dem »Mann Marias; von ihr wurde Jesus geboren, der der Christus genannt wird« (Mt 1,16). Klar, dass die Stelle heikel werden musste, als es um die Unterbringung der Jungfrauengeburt ging. Die Lesarten türmen sich förmlich, im 4. Jahrhundert bietet der wichtige (weil älteste) Codex Sinaiticus die Formulierung: »Josef, mit dem verlobt war Maria, die Jungfrau, zeugte Jesus«, worauf nicht folgt: »Sie wird einen Sohn gebären«, sondern: »Sie wird dir einen Sohn gebären«. Das Entscheidende war für Matthäus offenbar, dass Jesus über Josef von David abstammt. Weil dies an der Zeugung durch den Heiligen Geist zu scheitern drohte, ist er der Namengeber von Jesus – das musste genügen. Jesus war damit Davidide, worauf alles ankam.
An dieser Stelle lohnt ein vergleichender Rückblick auf Lukas, der genau wie Matthäus einen Stammbaum Jesu bietet, aber mit starken Abweichungen (nur zwischen Abraham und David stimmen die Namen überein, danach kaum noch). Lukas bringt die Liste nicht gleich zu Beginn im Zusammenhang mit der Geburtsgeschichte, sondern trägt sie später nach, ehe Jesus nach seiner Taufe in Galiläa zu wirken beginnt. Es handelt sich in diesem Fall nach römischer Tradition um eine aufsteigende Liste der Vorfahren von Josef, die bis zu Adam geführt wird. Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass Lukas Josef gewissermaßen aus der Schusslinie nimmt. Von Jesus heißt es: »Er galt als Sohn Josefs« – Punkt. Für Lukas steht eben Maria im Mittelpunkt, nicht Josef. Wer gibt Jesus bei Lukas den Namen? Eben nicht wie bei Matthäus Josef, sondern Maria. Und wo liegt sonst noch ein wichtiger Unterschied? Bei Lukas sieht die Ausweitung bis Adam so aus, als wolle er damit den universalen Aspekt des Auftretens von Jesus unterstreichen. Bei Matthäus hat man demgegenüber den Eindruck, er wolle Jesus als Juden darstellen, der aus der jüdischen Geschichte heraus die Wende brachte.
Genau dies bestätigt sich in einem noch viel wichtigeren Punkt. Wir wissen schon, dass die Autoren des Neuen Testaments die Beglaubigung ihrer Erzählung auf die Verbindung mit dem Alten stützen. Niemand geht dabei so systematisch und vor allem so offen vor wie Matthäus. Lukas montiert Alttestamentliches ein wie etwa beim Magnificat. Matthäus nennt dagegen ausdrücklich die Stellen, die sich als Voraussage deuten lassen. In der Geburtsgeschichte sind es insgesamt fünf solcher Erfüllungszitate, alle in entscheidendem Zusammenhang. Und alle besagen: Diese Geschichte, die im Folgenden erzählt wird, wurzelt in einer anderen, höchst bedeutsamen, nämlich in der Geschichte des jüdischen Volkes, wie sie dessen Heilige Schriften fixiert haben. Dieser Jesus ist genau der Messias, der angekündigt war, Punkt für Punkt seines Auftretens lässt sich mit den Aussagen des Alten Testaments abgleichen.
Nehmen wir zunächst Betlehem, den Geburtsort, den auch Lukas nennt, aber mit der Volkszählung in Verbindung bringt. Was sagt Matthäus? Er zitiert den Propheten Micha bzw. lässt sogar ganz Unabhängige, nämlich die jüdischen Experten des Herodes, bei dessen Suche nach dem Kind aus Micha zitieren: »Du, Betlehem im Gebiet von Juda, bist keineswegs die unbedeutendste unter den führenden Städten von Juda; denn aus dir wird ein Fürst hervorgehen, der Hirt meines Volkes Israel« (Mt 2,6). Das Zitat stimmt ungefähr, bei Micha heißt es genau: »Aber du, Betlehem-Efrata, bist zwar klein unter den Sippen Judas, aus dir wird mir einer hervorgehen, der über Israel herrschen soll […] Er wird auftreten und ihr Hirt sein in der Kraft des Herrn, in der Hoheit des Namens des Herrn, seines Gottes« (Mi 5,1–3). Nur muss man auch den Kontext berücksichtigen. Micha, ein Zeitgenosse des bedeutenderen Propheten Jesaja, versucht, seinen Stammesgenossen Mut zu machen angesichts der anrückenden Assyrer. Angekündigt ist also ein Heerführer, der zusammen mit seinen Leuten Assur »mit dem Schwert weiden« und damit das eigene Land retten werde. Zwar ist auch von »Frieden« die Rede, aber einem Frieden durch das Schwert.
Die zweite Vorausdeutung – sie geht der gerade behandelten im Text voran – betrifft die wichtige Jungfrauengeburt. Matthäus fällt ja anders als Lukas wirklich mit der Tür ins Haus, beginnt die »Geburtserzählung« mit der eingetretenen Schwangerschaft. Weil Matthäus aber nun einmal Josef im Visier hat, berücksichtigt er die Gedanken, die sich dieser Josef machen müsste, der genau weiß, dass er mit Maria nicht geschlafen hat, aber es plötzlich mit einer Schwangeren zu tun bekommt. Es erscheint ihm im Traum ein Engel und informiert ihn über die himmlischen Umstände, so dass Josef Maria »zu sich nehmen« kann, ohne sie weiter zu »erkennen«. Will sagen: Josef muss die Schwangere nicht verstoßen, schläft aber auch nicht mit ihr – vorläufig, denn bei Matthäus hat Jesus später Brüder (Mt 12,46 f.) bzw. Brüder und Schwestern (Mt 13,55 f.), die nicht vom Heiligen Geist stammen. Hier jedoch geht es um Jesus, den der Heilige Geist gezeugt hat. Und so beruft sich Matthäus auf »den Propheten«, wobei jeder wusste, dass Jesaja gemeint war: »Siehe: Die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären und sie werden ihm den Namen Immanuel geben, das heißt übersetzt: Gott mit uns« (Mt 1,23).
Zugrunde liegt die Jesajastelle (Jes 7,14), die Matthäus nach der Septuaginta zitiert, die tatsächlich an dieser Stelle das griechische Wort parthenos verwendet, das sowohl ›junge Frau‹ als auch ›Jungfrau‹