Licht zwischen den Bäumen. Una Mannion. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Una Mannion
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783958299894
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Dir ein paar Ölkreiden in die Mappe gesteckt, dazu die Informationen über das Kunst-Sommercamp und ein Empfehlungsschreiben. Die Arbeiten, von denen ich glaube, dass Du sie mit der Anmeldung einschicken solltest, haben einen grünen Kreis auf der Rückseite. Du bist zwar noch sehr jung, aber ich bin völlig überzeugt, dass sie Dich nehmen werden. Herzlich, Miss LeBlanc.

      Ich griff wieder in die Mappe und zog einen großen Umschlag hervor. Er enthielt eine Broschüre des Sommercamps der Chestnut Grove Art Academy sowie einen kleineren, verschlossenen Umschlag, auf dem mit Schreibmaschine die Worte Empfehlungsschreiben für Ellen Gallagher getippt waren. Vorhin im Auto hatte Ellen weder das Geschenk erwähnt noch den Brief oder das Empfehlungsschreiben. Ich steckte alle Bilder wieder in die Mappe zurück, den Umschlag ließ ich auf meinem Bett liegen. Ich musste mich fürs Babysitten umziehen.

      Jeden Freitag passte ich auf die beiden kleinen Söhne von Mrs Boucher auf. Außer meiner Mutter war sie der einzige geschiedene Mensch, den ich kannte, aber bei ihr wirkte es glamourös. Marie meinte, da zeige sich eben der Klassenunterschied. Solange man Geld und gesellschaftliches Ansehen habe, sei es völlig in Ordnung, die Regeln zu brechen. Mrs Boucher trug schmale schwarze Kleider, türkisfarbene Ketten und große Kreolen an den Ohren. Sie hatte langes, rabenschwarzes Haar, das sie immer offen ließ, wenn sie ausging. Mir hatte sie erzählt, sie sei Halbindianerin, und die Haare habe sie von den Shawnee, dem Volk ihrer Großmutter. Sie war Anwältin und lebte in einem Haus, das meine Mutter wohl als »modern« bezeichnet hätte, tief im Wald, mit großen Fensterfronten, in denen sich die Bäume ringsum spiegelten. Ihr Baumhaus, nannte sie es immer.

      Ich zog meine Schuluniform aus und schlüpfte in Jeans, T-Shirt und Turnschuhe. Meine großen Zehen bohrten sich durch den Leinenstoff. Ich hatte schon genug Geld vom Babysitten gespart, um mir neue zu kaufen. Mrs Boucher zahlte mir zehn Dollar pro Abend, im Wesentlichen fürs Fernsehen, was für mich ein ganz besonderes Vergnügen war, weil wir zu Hause keinen Apparat hatten. Eigentlich wollte ich nicht weg, solange Ellen noch irgendwo da draußen herumirrte, aber so kurzfristig konnte ich Mrs Boucher nicht anrufen und absagen. Ich spähte aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus, die Hände rechts und links vom Gesicht, um das Licht im Zimmer auszusperren. Jemand, wahrscheinlich Marie, hatte die Außenbeleuchtung eingeschaltet. Ich konnte die großen Quarzsteine vorne in unserer Einfahrt erkennen, das hohe Gras, die leere Straße.

      Marie kam ins Zimmer und ließ sich auf ihr Bett plumpsen, das schräg gegenüber von dem Ausziehbett stand, wo Ellen und ich schliefen. »Lass nicht immer dein Zeug auf meinem Bett liegen.« Sie warf mir meinen Schottenrock zu. »Du brauchst gar nicht zu gucken: Das dauert noch Stunden. Es kann zehn oder elf werden, bis sie wieder hier ist.«

      »Sie hätte Dad nicht erwähnen sollen.«

      »Wieso denn nicht?«, fragte Marie. »Wieso müssen wir hier eigentlich immer diesen Eiertanz aufführen? Wir dürfen über nichts reden, und wenn es doch mal einer tut, ist es gleich eine Riesenkatastrophe.« Marie hatte den Rock und die Bluse ihrer Schuluniform ausgezogen. Sie streifte ein schwarzes T-Shirt über, mit brennenden Autos darauf. »Und sie schließt sich natürlich gleich wieder in ihrem Zimmer ein.« Sie schob den Fuß in einen schwarzen Stiefel. Es stimmte schon, Mom würde sich den ganzen Abend nicht mehr blicken lassen. »Außerdem war es gar nicht der Dad-Kommentar, über den sie sich so aufgeregt hat.« Marie setzte sich aufs Bett und machte sich daran, sich die Augen mit schwarzem Eyeliner zu umranden. »Sondern der über den fetten Freund.«

      Nach Dads Tod waren wir zwei Mal bei der Familienberatung gewesen. Beim ersten Besuch hatten wir uns alle einzeln mit Gwen, der Therapeutin, unterhalten. Ich hatte ihr von Bill erzählt, dem Freund unserer Mutter, dass sie ihn vor uns allen versteckte, außer vor Beatrice, dass wir anderen ihn nicht mal kannten, obwohl es ihn schon seit Jahren gab. Dass er offensichtlich Beatrices Vater war und ich die ganze Zeit wütend auf meine Mutter. Ich hatte die anderen nie gefragt, worüber sie gesprochen hatten.

      Bei der zweiten Sitzung rief Gwen uns alle in einem Zimmer zusammen, und wir saßen in einem Kreis aus gemütlichen Sesseln. Ich schaute von Gwen zu meiner Mutter, und mir war klar, dass das hier nichts bringen würde. Gwen mit ihren langen Ohrringen und dem himmelblauen Lidschatten, dem goldenen Fußkettchen um den sonnengebräunten Knöchel. Meine Mutter mit ihrer reinen, blassen Haut, das Haar zum Knoten gezurrt, nicht die leiseste Spur von Leichtsinn. Sie schminkte sich nicht, gab praktisch nie auch nur einen Penny für sich selbst aus. Gwen wollte, dass sie über Dad redete, wie es vor der Trennung mit ihm gewesen war, was genau passiert war. Jemand von uns hatte etwas gesagt. War wirklich nur ich das gewesen? Ich spürte einen Schmerz in der Brust. Aber Mom ließ sich nicht erweichen, ihre Miene war entschlossen. Sie wollte nicht schlecht über unseren Vater reden. Sie würde nichts ausplaudern. An der Wand hing ein Poster von Holly Hobbie in ihrem Flickenkleid, mit der absurd großen Mütze, der Blume, an der sie immer schnupperte. Ihr Gesicht war nicht zu erkennen. Wir musterten die Wände, den grünen Büroteppichboden, die Tweedpolster der Sessel, in denen wir saßen, alles, nur damit wir einander nicht ansehen mussten. Moms Loyalität zu unserem Vater tat mir weh. Ich selbst hatte sie immer und immer wieder verraten, zuletzt gegenüber Gwen, einer Wildfremden, die für ihre Notizen auf dem Klemmbrett einen Bleistift mit Trollhaaren und aufgeklebten Kulleraugen verwendete. Marie zog die Augenbrauen hoch, als sie sie damit schreiben sah. Mit uns würde Gwen nicht weit kommen.

      Hinterher beschloss unsere Mutter, solche Beratungen seien sinnlos und sie könne Gwen mit ihrer herablassend süßen Stimme nicht ertragen. »Wir brauchen einfach Zeit«, sagte sie. Und wir gingen nie wieder hin.

      Marie nahm ihren weißen Puder und verteilte ihn auf Wangen und Stirn. Ich sah ihr kurz dabei zu. Wir hatten ganz unterschiedliche Gesichter. In der Schule konnte keiner glauben, dass wir Schwestern waren. Marie war zierlich, wie Ellen, und hatte ein zartes Gesicht. Meines war breiter, flacher. Marie war hübsch und lebhaft, während Sage von mir sagte, ich wirke irgendwie »ätherisch«, als sei ich ständig mit den Gedanken woanders. Meine Augen waren blau, aber heller als die von Marie, von allen Geschwistern waren sie denen unserer Mutter am ähnlichsten, und während die anderen alle hellbraunes oder blondes Haar hatten, waren außer den Brauen und Wimpern bei mir auch die Haare ganz dunkel. Hippie-Haare, wie Marie immer sagte. Sie hingen einfach glatt zu beiden Seiten meines Gesichts herunter, bis zur Taille. Formlos im Vergleich zu Maries Punkfrisur oder Sages Stufenschnitt, aber mir fiel auch nicht ein, wie ich sie hätte schneiden lassen sollen. Die meisten Mädchen in meiner Klasse hatten jetzt eine Dorothy-Hamill-Frisur, aber ich glaubte nicht, dass mir so etwas stehen würde. Ich hatte eine Lücke zwischen den Vorderzähnen, also lächelte ich nur mit geschlossenem Mund. Marie trug lila Lippenstift auf, so dunkel, dass er fast schwarz aussah.

      »Ich muss zum Babysitten. Rufst du mich bei den Bouchers an, wenn sie wieder da ist?«

      »Klar.« Im Spiegel sah sie zu mir hin. Mir war nicht ganz klar, warum sie sich ihr Punk-Gesicht malte, obwohl sie gar nicht mehr raus wollte.

      Ich ging runter in die Küche und machte den Kühlschrank auf. Er war praktisch leer. Unsere Mutter bewahrte das Brot immer im Gemüsefach auf, damit es nicht alt wurde. Ich nahm mir eine Scheibe und verteilte ein Stück Butter darauf. Das Brot war so kalt, dass ich es kaum kauen konnte. Kurz fürchtete ich, mir würde schlecht werden. »Die Sorgenvolle«, hatte Gwen mich genannt. Das stimmte. Ich machte mir ständig und wegen allem Sorgen. Wenn die anderen über den Zaun zum Schwimmclub kletterten, um nackt zu baden, blieb ich draußen und hielt auf der Straße nach der Polizei Ausschau, falls jemand versehentlich den Alarm auslöste oder ein Nachbar sie meldete. Wenn Marie abends heimlich aus dem Fenster kletterte, konnte ich nicht einschlafen, bis sie wieder da war, stellte mir all die vielen schrecklichen Dinge vor, die ihr zustoßen könnten, horchte nach den Schritten unserer Mutter draußen auf dem Flur. So war ich schon vor Dads Tod gewesen. Einmal hatte unsere Mutter uns allen Poster gekauft. Meines zeigte ein Löwenjunges, das mit weit offenem Maul heulte, und darunter stand: Mach dir keine Sorgen. Die Welt ist auch so schon traurig genug.

      Für Marie hatte sie ein Poster gekauft, auf dem Comictiere Musikinstrumente spielten, und der Spruch dazu lautete: Der Zauber der Musik zähmt selbst das wilde Tier.

      Auf dem von Ellen stand: Freu dich, du bist nicht wie die anderen.

      Ich warf das Brot in den Müll. Ich