Licht zwischen den Bäumen. Una Mannion. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Una Mannion
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783958299894
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in Yellow Springs, auf der anderen Seite des Bergs, die Kranken und Sterbenden mussten also durch unsere Wälder gekommen sein, wenn sie vom Lager dorthin wollten, über diese Wege. Kranke Männer, die ohne Schuhe durch den Schnee stapften, durch dieselben Wälder wie ich gingen oder getragen wurden. Was hatten sie von der Krankenbahre aus gesehen, wenn sie nach oben schauten, im Winter, ohne Blätterdach? Nichts als schwarze, nackte Äste vor einem grauen Himmel, dazu der Gedanke, dass sie diese Welt vielleicht gerade zum letzten Mal sahen und die Sonne es nicht für nötig hielt, sich zu zeigen. Vielleicht hatten sie nicht einmal Bäume gesehen; irgendwo hatte ich gelesen, dass die Soldaten fast alles abgeholzt hatten, um es warm zu haben und ihre Hütten zu bauen.

      Der Valley Forge Mountain war weniger ein Berg als ein Hügel. Wenn man die Abkürzung durch den Wald nahm, war Washingtons Hauptquartier keine drei Kilometer von unserem Haus entfernt. In den Fünfzigerjahren war der Berg zum Wohngebiet umgewidmet worden, der Wald allerdings blieb als Teil des Nationalparks erhalten. Hinter unserem Haus führte der Horseshoe Trail entlang, ein Wander- und Reitweg, der im Nationalpark begann und dann über zweihundert Kilometer weiterging, bis er in Harrisburg auf den Appalachian Trail traf.

      Der Weg zerschnitt den Berg in zwei Verwaltungsbezirke: Tredyffrin, wo Sage wohnte, und Schuylkill auf unserer Seite. Sages Teil des Bergs wirkte damals wohlhabender – die Häuser waren größer und besser in Schuss. Die größte Ortschaft in Schuylkill war Phoenixville, ein altes Eisen- und Stahlarbeiterstädtchen am Fuß des Bergs. Im Lauf unserer Kindheit wurden die Stahlwerke verkleinert, bauten Personal ab, schlossen. Phoenixville litt. Marie meinte, die Stadt hänge in einer Zeitschleife fest: Die Achtziger hatten begonnen, aber in Phoenixville herrschten immer noch die Sechziger und für junge Leute gab es kaum Perspektiven dort. Kinder, die am Berg wohnten und aus Schuylkill kamen, gingen auf die Phoenixville High School und die aus Tredyffrin auf die Conestoga, eine der besten staatlichen Schulen in ganz Pennsylvania. Wir besuchten keine von beiden. Wir gingen auf katholische Schulen, die näher an Philadelphia lagen.

      Ich verbrachte meine Zeit am Berg meistens damit, durch die Wälder zu streifen oder zu Washingtons Hauptquartier hinunterzuwandern. Thomas und ich hatten auch mal versucht, im Schuylkill River zu angeln, der gleich daneben entlangfloss. Er meinte, wir könnten vielleicht Welse oder Barsche erwischen. Aber wir fingen nie etwas, am Flussufer roch es nach Abwasser und an den seichteren Stellen sahen wir Radkappen, kaputte Toaster und anderen Müll herumliegen. Oben am Berg, abseits des Weges, konnte man im Wald noch die Überreste alter Steinbrüche ausmachen, und am Ende unserer Straße, knapp einen halben Kilometer entfernt, lag eine tiefe Schlucht, die einmal zu einer Quarzmine gehört hatte. Dort wurden Quarz-Erze abgebaut und irgendwo zu Sand verarbeitet. Überall am Berg fand sich Quarz – riesige glitzernde Steine, die einfach so auf der Erde lagen, oder schimmernde Quarzkanten, die aus dem Boden ragten, als würden sie dort wachsen. Dad hatte mir erzählt, im prähistorischen Irland habe der Quarz als heiliger Stein gegolten und sei mit den sterblichen Überresten der Toten begraben worden.

      Nachdem wir Ellen an der Straße zurückgelassen hatten, fuhren wir schweigend den Berg hinauf. Ich sah, wie das Scheinwerferlicht des Wagens auf die Bäume traf, wenn wir um eine Kurve bogen. Jedes Mal, wenn unsere Mutter runterschaltete und langsamer wurde, hoffte ich, sie würde sich besinnen, würde wenden, zurückfahren und Ellen von der Straße holen, und keiner von uns würde mehr wütend sein, weil wir alle so dankbar wären, sie wieder sicher bei uns im Auto zu haben. Aber wir fuhren weiter. Beatrice hintendrin war die Einzige, die etwas sagte.

      »Da sind keine Straßenlaternen. Wie soll sie denn nach Hause finden?« Niemand gab eine Antwort.

      Wir hielten in unserer Einfahrt, und Marie stieg aus, um das Garagentor zu öffnen. Auf der anderen Straßenseite hatten die Walkers ihre Gartenbeleuchtung eingeschaltet; in ihrem Licht sah ich das wuchernde Gras unseres Vorgartens, kniehoch und ganz verwildert. Alles fühlte sich falsch an. Das Haus, das ungemähte Gras, Ellen draußen auf der Straße, Dad nicht mehr da. Vor ein paar Monaten hatte Mr Walker uns einen Brief geschrieben, eine kaum verhohlene Beschwerde darüber, wie unser Haus aussah. Außen auf der Karte stand Von Herzen, innen sprach er uns sein Beileid aus für alles, was wir im vergangenen Jahr durchgemacht hätten, er habe viel an uns gedacht. Seine Frau Minnie und er hätten für uns gebetet, schrieb er und schloss mit den Worten: »Wir haben uns überlegt, es könnte Ihre Last vielleicht ein wenig lindern, wenn Sie diesen Sommer jemanden hätten, der Ihren Rasen mäht und kleinere Instandhaltungsarbeiten für Sie erledigt. Soviel ich weiß, ist einer der De Martino-Söhne gerade auf der Suche nach genau dieser Art von Arbeit. Geben Sie uns doch Bescheid, wenn wir Ihnen irgendwie behilflich sein können.« Unterschrieben hatte er mit: »Ihr Nachbar und Freund, Harry Walker«.

      Marie hatte gedroht, ihn höchstpersönlich aufzusuchen. »Ich werde ihn ganz direkt fragen: Wenn er so ein toller Christ ist und sich solche Sorgen wegen unserem hohen Gras macht, warum kommt er dann nicht selbst rüber, schwingt seinen fetten Elmer-Fudd-Hintern auf den Echtledersitz von seinem verdammten Rasentraktor-Cadillac und mäht für uns?«

      Wir mussten alle lachen, sogar unsere Mutter. Mit seinen knallbunten, gestärkten Karohemden und den viel zu hoch sitzenden Freizeithosen sah Mr Walker tatsächlich ein bisschen aus wie Elmer Fudd. Marie parodierte Minnie Walker im Die Frauen von Stepford-Stil. Sie drehte sich altmodische Lockenwickler in die Haare, stopfte sich Fußbälle unter den Pullover, so dass sie fast vornüber kippte, band sich eine bodenlange Schürze um und bemalte sich den Mund mit knallrotem Lippenstift, weit über die Konturen hinaus. So trug sie dann ein unsichtbares Tablett mit einem Glas Limonade durch unser Wohnzimmer: »Ach, liebster Harry Walker, ich bin ja so beschäftigt mit meiner christlichen Nächstenliebe und meiner Barmherzigkeit, dass ich fast vergessen hätte, dir deine Erfrischung zu servieren. Du bist doch sicher ganz müde davon, dir den Arsch platt zu sitzen und die paar Grashalme zu mähen. Und wie aufreibend es doch für dich sein muss, mein armer Harry, die ganze Zeit auf dieses schändliche Haus und diese schändlichen Leute gegenüber zu schauen.« Sie brachte uns alle hemmungslos zum Lachen. Thomas lachte so sehr, dass er gar keinen Ton mehr herausbekam. Ich wusste, ihn belastete das mit dem Gras am meisten, weil er das Gefühl hatte, eigentlich für das Mähen zuständig zu sein. Aber wir besaßen keinen Rasenmäher und hatten auch die anderen Geräte unseres Vaters nie von seinem Cousin aus der Bronx zurückbekommen. Wir hatten ihn nie danach gefragt, und von sich aus hatte er auch nichts gesagt. Wir hatten überhaupt nichts von Dad zurückbekommen, nur den Transporter, den Mom dann verkauft hatte, und seine Leiche. Ich fragte mich, was wohl aus den vielen Karten und Geschenken geworden war, die wir ihm geschickt hatten. Aus all den Dingen, die wir in der Schule für ihn gebastelt hatten. Ich war mir sicher, er hatte sie aufgehoben. Mir wurde ganz übel bei dem Gedanken, dass sein Cousin all seine Sachen einfach weggeworfen hatte.

      Im Scheinwerferlicht sah ich, wie Marie das Garagentor nach oben schob. Jetzt, wo sie den Kopf auf einer Seite rasiert hatte, konnte sie kaum noch die Minnie Walker mit Lockenwicklern geben. Marie trat zur Seite, und unsere Mutter fuhr in die Garage, zog die Handbremse an, stellte den Motor ab, griff sich ihre Handtasche vom Boden vor dem Fahrersitz und verschwand sofort im Haus und in ihrem Zimmer.

      Ich hievte meine Schultasche und meine Mappen aus dem Wagen, nahm auch die von Ellen mit und schleppte sie ins Haus. Ellen hatte ihre großformatige Kunstmappe mit ihren Arbeiten aus dem Schuljahr dabei. In Schreibschrift hatte sie groß Ellen darauf geschrieben und die einzelnen Buchstaben mit verschiedenen Farben umrandet, die sich nach außen hin psychedelisch zu Blumen und Mustern verzweigten, wie auf einem Plattencover von Cream. Ich öffnete die Mappe und breitete die Bilder auf dem unteren Teil des Ausziehbetts aus, wo sie schlief. Es waren Farbräder und Bleistiftzeichnungen dabei, Stillleben mit Früchten und Blumen. Auch ein Familienportrait war darunter, mit nur fünf Figuren; sie hatte Mom und Dad nicht mitgezeichnet, nur uns. Auf dem Bild war Marie die Größte, obwohl Thomas und ich sie beide überragten. Mitten im Stapel steckte auch ein Selbstportrait, mit Wachs- und Ölkreiden. Ellen hatte nur Blau, Lila und Schwarz dafür verwendet. Es wollte gar nicht realistisch sein, und doch fing es viel von ihr ein, ihre großen blauen Augen, die mit den leichten, lila-bläulichen Schatten darunter immer etwas eingesunken aussahen, die dunklen Wimpern und Brauen, den Seitenscheitel. Das Gesicht war nicht klar umrissen; es schien aus den dunklen Formen aufzutauchen. Hinten auf der Mappe stand eine Nachricht, mit grünem Filzstift geschrieben.