Murad erweiterte den osmanischen Einfluss sowohl durch Eroberungen als auch durch Diplomatie. Eheallianzen verbanden ihn mit dem slawischen Fürsten von Tarnovo und den türkischen Emiren von Kastamonu und Sinop. Geschickt nutzte er die Hochzeit seines Sohnes Bayezid, um seinen dazu eingeladenen türkischen Vasallen seine Macht zu demonstrieren.28 Und mit dem Fünftel, das ihm an der Kriegsbeute zustand, schuf sich Murad eine kleine Armee aus Elitesklaven, eine bestens ausgebildete Infanterie, die ihm persönlich ergeben war. Zwar hatte schon Orhan eine kleine Infanterieeinheit besessen, aber Murads stehende besoldete „neue Truppe“ (yeni çeri, daher „Janitscharen“) dürfte als Gegengewicht zu seinen türkischen Vasallen und den lästigen turkmenischen Plünderern geschaffen worden sein, denen ausgerechnet Osman und Orhan ihre Anfangserfolge verdankten.29 Quellen aus dem folgenden Jahrhundert spiegeln den Statusgewinn des osmanischen Herrschers wider. Murad sowie sein Sohn und Nachfolger Bayezid wurden fortan nicht mehr Emir genannt, sondern Sultan und Hüdavendigâr, „Großherr“.
Eine zweite Serie von Feldzügen in den 1380er-Jahren dehnte die türkische Herrschaft ins westliche Thrakien aus. Mehrere befestigte Städte Makedoniens fielen, und 1387 wurde nach vierjähriger Belagerung auch Saloniki eingenommen. Murads Armeen gingen in den südslawischen Ländern und nahe der Adriaküste auf Raubzüge. Einige slawische Erfolge gab es immerhin. Lazar, der Fürst von Kruševac, erlangte Ende 1387 kurzzeitig Niš und die Pässe, die die Straße nach Sofia sicherten, zurück. Im Jahr darauf wurden die Türken und ihre albanischen Verbündeten bei Dubrovnik geschlagen, und auch Tarnovo trotzte Murad. Dieser überschritt das Balkangebirge, erzwang die Unterwerfung von Tarnovo, Silistra und Varna am Schwarzen Meer, dazu aller Festungen bis zur Donau, und fiel plündernd in die Walachei ein. Schließlich traf Murad am 1. August 1389 auf dem „Kosovo polje“, dem Amselfeld, der Kosovo-Ebene, auf ein Bündnis slawischer Streitkräfte unter Lazar.
Kosovo
Der Ausgang der Schlacht auf dem Kosovo war ein wenig doppeldeutig. Sowohl König Lazar als auch Sultan Murad waren tot, und die osmanische Hegemonie über sämtliche südslawischen Länder hatte bereits die entscheidende Schlacht an der Mariza 18 Jahre zuvor sichergestellt. Doch unter den Südslawen wuchs die Legende vom Kosovo zu einem mittelalterlichen Sagenzyklus und nährte später den modernen Mythos von der auferstandenen serbischen Nation.30 Andererseits bildete in türkischen Berichten der heimtückische Mord an Murad den Höhepunkt der Geschichte: Ein christlicher Ritter erstach ihn nach der Schlacht mit einem Dolch, den er im Mantel versteckt hatte. Entweder hatte er sich unter den Leichen verborgen oder war, so einige andere Versionen, als Gefangener ins Zelt des Sultans geführt worden.
Türkische wie slawische Autoren kannten die Geschichten der jeweils anderen Seite. Spätere slawische Chronisten beschlossen, der Mörder habe vorgegeben, zu den Türken überlaufen zu wollen – eine Geschichte, die sie den türkischen Historikern entnommen hatten –, während der türkische Historiker Neşri seinerseits den Namen des Mörders und seinen bei Lazars letztem Abendmahl geleisteten Schwur, den Sultan zu töten, aus den slawischen Quellen einfügte.31 Eine andere finstere Einzelheit, die Schein bekehrung des Mörders zum Islam, erscheint ein Jahrhundert nach Neşri in der Anthologie des Briefwechsels der Sultane.32 Verfasser dieses Werkes war Ahmed Feridun, ein osmanischer Staatsmann unbekannter Herkunft – doch da er als Sekretär von Mehmed Sokollu, dem berühmten slawischen Großwesir der Osmanen, bekannt wurde, wäre es nicht überraschend, falls auch Feridun ein südslawischer Konvertit gewesen wäre. Viele „amtliche Dokumente“, die er in seiner Anthologie sammelte, waren tatsächlich Fälschungen, darunter auch die Kosovo-Geschichte. Sie taucht in einem Brief auf, der von Murads Sohn und Nachfolger Bayezid zu sein behauptet und berichtet, wie er auf den Thron kam.33
Auf jeden Fall brachte man Murad vom Kosovo, wo er gefallen war, heim und begrub ihn in einer neuen Moschee in der Zitadelle von Bursa, der Märtyrermoschee. Bayezid folgte seinem Vater Murad unangefochten, wohl weil er auf dem Schlachtfeld des Kosovo die Hinrichtung seines einzigen Bruders befohlen hatte.34
Eine neue Gesellschaft
Aus den Kriegen, Katastrophen, Seuchen und Wanderungen dieses bemerkenswerten Jahrhunderts entstand in den Grenzregionen allmählich eine neue Gesellschaft. Ihre verschiedenen Gemeinschaften, die Seite an Seite lebten – Griechen und Türken, Slawen und Lateiner –, verstanden oder mochten einander nicht immer. Doch wie im Fall der Legenden um das Kosovo konnten ihre wechselweise Unwissenheit und ihre manchmal bestürzende gegenseitige Bosheit nicht verhindern, dass es unweigerlich zu einer Gemeinsamkeit der Mittel und Wege kam, einer Überlappung der Identitäten, die – wenn auch uneingestanden, ja unbewusst – binnen einer Generation aus dem Unheil erwuchs.
Es ist zwar nicht falsch, solche Gemeinschaften als „christlich“ und „muslimisch“ zu bezeichnen, aber an den verschwommenen Grenzen zwischen den beiden öffnete sich eine Zwischenregion, in der christliche wie muslimische Ritter zu den plündernden Armeen zählten, Christen wie Muslimen die Gefahr der Versklavung drohte, Christen wie Muslime Krankheiten und Seuchen zum Opfer fielen und Christen wie Muslime sich ineinander verliebten, intime Beziehungen eingingen und Mischehen schlossen. Kantakuzenos rügte seine griechischen Rivalen in Konstantinopel, denn ihre Heere seien voller „Halbbarbaren“, mixobarbaroi, und am Ende des Jahrhunderts sagte Timur dasselbe über die Osmanen.35 Die beiden berühmtesten Zeitzeugen für diese verknüpften Gesellschaften, Ibn Battuta und Palamas, der eine Muslim, der andere Christ, fühlten sich jeder in der Küstenregion Kleinasiens als Außenseiter. Ibn Battuta verbrachte den Großteil seines Lebens mit Reisen von einem Ende der islamischen Welt zum anderen, und in Gesellschaft gleichgesinnter muslimischer Gelehrter fühlte er sich wohl, aber an der kleinasiatischen Küste stieß er auf überraschende Barrieren, denn er konnte kein Türkisch. Und als Erzbischof Palamas unter die griechischen Christen in Kleinasien kam, die er als sein eigenes Volk betrachten durfte, bemerkte er mit einem gewissen Kummer, aber auch mit einiger Bewunderung, dass „die Christen und die Türken sich miteinander vermischen, ihren Geschäften nachgehen, einander führen und voneinander geführt werden …“36
Es ist nicht leicht, ein vollständiges demographisches Bild dieser entstehenden Gesellschaft zu zeichnen. Beispielsweise ist es unmöglich, die Zahl der Gesamtbevölkerung in der Region zur Zeit der türkischen Eroberung oder die Größe der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen zu ermitteln, aus denen sich die Gesamtheit zusammensetzte. Unbekannt bleiben die Zahlen der Invasoren und Einwanderer, die der Menschen, die vor den Katastrophen vorübergehend oder dauerhaft auf die Inseln der Ägäis, nach Konstantinopel oder in die slawischen Länder flüchteten, wie viele von ihnen starben, wie viele in die Sklaverei verkauft wurden, zuhause blieben oder heimkehrten, als die Gewalt abebbte.
Anfangs war der Großteil der Bevölkerung in den Ländern, über welche die osmanischen Emire herrschten, orthodoxe Christen. Es ist nicht leicht, die Lebensumstände dieser „großen Zahl von Christen unter muslimischer Herrschaft“, wie Ibn Battuta schrieb, einzuschätzen. Die orthodoxe Kirche, deren Struktur erst durch die Slaweneinfälle und dann durch die türkischen Einfälle dezimiert worden war, stand vor gewaltigen Schwierigkeiten.37 Der Klerus erlitt beträchtliche materielle Verluste und verarmte durch die Angriffe der Türken, die Flucht von Ordensgemeinschaften und deren Anführern, die Gefangennahme und Versklavung zumindest eines Teils der Bevölkerung, die Aufgabe und Beschlagnahmung von Liegenschaften und den Aderlass durch ansteckende Krankheiten. Disziplin, Moral und Reinheit der Lehre litten gleichermaßen.38 Dennoch zeigen Ausgrabungen in Sardes, einer Stadt an der viel befahrenen Flussroute über den Hermos (Gediz) von der Küste Kleinasiens ins Landesinnere, wenig Brüche in den Siedlungsspuren, vielmehr deuten sie auf eine Kontinuität zwischen der byzantinischen und der frühtürkischen Zeit, etwa in Produktion und Gebrauch glasierter Keramik.39 Zwar fand Erzbischof Palamas Nikaia während seines dortigen Zwangsaufenthaltes zum Großteil verlassen vor und stellte fest, dass der Handel