Nicht so schnell. Eine einzelne Schlacht macht noch kein Reich. Die frühesten erhaltenen türkischen Beschreibungen sind einhundert Jahre jünger, sie stammen aus einer Zeit, als die Erinnerungen an die Anfänge des Reiches bereits eng mit den Ansichten über die Art und Weise verknüpft waren, wie sich alles weiterentwickelt hatte. Und so trieb die osmanische Gründergeneration, losgelöst von der festen historischen Verankerung, in den Strudeln von Poesie und Epos aufs offene Meer hinaus. Selbst das Datum steht nicht ganz fest, was osmanischen Autoren nur recht war. Sie verlegten es gern ins Jahr 699 der Hidschra des Propheten Mohammed, als hätte das osmanische Herrscherhaus die Hoffnung auf den „Erneuerer des Zeitalters“ erfüllt, der zu Beginn eines jeden neuen Jahrhunderts erscheinen sollte. Und es war ein außerordentlicher Beginn – das islamische Jahr 700 entsprach beinahe genau dem christlichen Jahr 1300, eine bemerkenswerte Epochenüberschneidung.
Raubzüge und rauschende Fluten rühren im Türkischen von derselben verbalen Quelle her, und Tränen ebenso, nämlich von der Wurzel ak-, und viele spätere Autoren, Türken wie Griechen, kannten das Wortspiel. „Die Verstärkungen des rechten Glaubens rauschten über den Ungläubigen hinweg“, so geistreich der türkische Dichter Ahmedi,2 und der griechische Historiker Dukas schrieb: „Wenn sie die Stimme des Herolds vernehmen, der sie zum Angriff ruft – der in ihrer Sprache akin heißt –, brechen sie ungebeten herein wie ein über die Ufer tretender Fluss.“3
Die türkische Flut
Fast nichts wissen wir heute über Osman, den Gründer des Hauses Osman, den Mann, der als Erster der Osmanensultane in Erinnerung ist. „Osman Bey trat in Erscheinung“, vermerkte ein lakonischer Annalist später. Niemand weiß, wann oder wo Osman geboren wurde, und lange Zeit gab es kein einziges Artefakt, das sich zuverlässig in seine Lebenszeit hätte datieren lassen. Inzwischen sind zwei Münzen aufgetaucht, eine in einer Privatsammlung in London und eine im archäologischen Museum von Istanbul; beide tragen die Prägung Osman ibn Ertugrul.4 Selbst sein Name ist umstritten. Der griechische Historiker Pachymeres,5 dem wir die Beschreibung des Sangarios-Hochwassers verdanken und der als einziger zeitgenössischer Autor Osmans Namen erwähnt, nennt ihn gar nicht Osman, sondern Ataman. Die überraschende Vorstellung, Osman habe einen anderen Namen getragen, wird von zwei späteren Quellen gestützt, einmal dem Werk eines „Lehnstuhlgeographen“, das um 1350 auf Arabisch verfasst wurde, und zum anderen einer um 1500 geschriebenen Biographie des muslimischen Heiligen Hacı Bektaş. Ataman ist ein türkischer oder vielleicht mongolischer Name, während Osman untadelig muslimisch ist, die türkische Form des arabischen ʿUthmān – wie auch der Gefährte des Propheten Mohammed hieß, der dritte Kalif des Islam. Dies hat den Verdacht geweckt, unser Osman oder Ataman könnte von Geburt Heide gewesen sein, seinen neuen Namen Osman also später angenommen haben, als er Muslim wurde. Doch wenn dies stimmen würde, wenn Osman tatsächlich ein islamischer Konvertit war, der seinen Namen änderte, warum hätten dann seine Söhne, die ohne jeden Zweifel Muslime waren, ihre echt türkischen Namen behalten sollen?6
Abb. 1.1: Die Gräber von Osman und Orhan in Bursa auf einer Fotografie von Abdullah Frères, ca. 1880–1893
Laut dem, was Pachymeres schrieb, können wir über jenen Türken, den er Ataman nennt, mehr oder weniger nur vermuten, dass er ein Krieger war. Nach den Kriegszügen vom Sangarios (Sakarya) und dem Sieg bei Bapheus strömten ihm von fern und nah türkische Krieger zu.7 Ataman belagerte Nikaia, und obwohl er die Stadt nicht einnehmen konnte, überzog er ihre Umgebung mit Überfällen, tötete dabei viele, machte einige Gefangene und schlug den Rest in die Flucht. Mehrere andere Festungen und befestigte Städte im Sangarios-Tal nahm er jedoch ein und nutzte sie als Depots für seine Beute. Auf ähnliche Art verwüstete er das Umland von Prusa (Bursa), konnte aber auch diese Stadt nicht erobern.
Unsicher ist auch Osmans Todesdatum. Wahrscheinlich war er 1324 schon tot, dem Jahr, in dem sein Sohn Orhan eine Stiftungsurkunde beglaubigte.8 Der marokkanische Weltreisende Ibn Battuta, der die Region in den Jahren 1331–32 besuchte, schrieb, dass Osman in der Moschee von Bursa begraben sei, bei der es sich wahrscheinlich um die frühere Kirche St. Elias handelt.9 Wegen eines Erdbebens steht diese Kirche heute nicht mehr. Inzwischen liegen die sterblichen Überreste Osmans neben denen von Orhan; Vater und Sohn ruhen in einem Doppel-Mausoleum, das 1863 errichtet wurde.
Orhan
Weitaus leichter als für Osman, den Vater, lassen sich zeitgenössische Belege für Orhan, den Sohn, finden. Zwei Inschriften Orhans sind erhalten und außerdem Abschriften dreier seiner Stiftungsurkunden.10 Namentlich erscheint er in mongolischen Rechnungen11, und auch in persischen und arabischen Quellen wird er erwähnt. Ibn Battuta behauptete, Orhan begegnet zu sein, „dem größten der Könige der Turkmenen und dem reichsten an Vermögen, Land und Heeresmacht“. Orhan „kämpfte ständig mit den Ungläubigen“ und reiste regelmäßig zwischen seinen über 100 Burgen umher, überzeugte sich, dass sie in gutem Zustand waren, und blieb nie länger als einen Monat an einem Ort.12 Ibn Battutas Bild eines unablässig kämpfenden Orhan wird von griechischen Autoren nachdrücklich bekräftigt. Er und seine Männer eroberten 1326 nach langer Belagerung Prusa (Bursa), und im darauffolgenden Jahr ließ Orhan dort Münzen prägen, wie ein erhaltenes Silberstück zeigt. Im Jahr 1331 fiel Nikaia (İznik) an Orhans Truppen und 1337 Nikomedia (İznikmid, İzmit). Die Einnahme dieser drei bedeutenden griechischen Städte – Prusa, Nikaia und Nikomedia – machte Orhan zum Herrn der gesamten Region Bithynien.
Karte 1.1: Die Umgebung des Marmarameers
Orhan war aber nur einer von vielen türkischen Herrschern, denen Ibn Battuta auf seiner Reise durch Kleinasien begegnete. Turkmenische Sippen, die vor den Mongoleneinfällen flohen, bildeten die Streitmacht für so manchen ehrgeizigen Fürsten, der seit den 1290er-Jahren die Flusstäler und Küsten von Schwarzem Meer, Marmarameer und Ägäis plünderte. Außer Orhan nutzten auch mehrere von ihnen ihre bewaffneten Banden, um primitive Verwaltungsstrukturen zu schaffen. Um 1340 kontrollierten sie die meisten Überlandrouten und Karawanenstädte der Flusstäler und schalteten sich an den Küsten in den Kampf zwischen Byzanz und den italienischen Seestaaten um die Häfen und Schifffahrtswege ein. Die türkischen Fürsten dieser Grenzlande und ihre Gefolgsleute erschienen nicht nur den Griechen als roh und unbezähmbar, sondern auch den weltläufigen muslimischen Autoren aus „Rum“ oder Rom, wie man die Hochebene im Binnenland nannte, weil sie einst Teil des Römischen Reiches gewesen war. Dort hatte die islamische Kultur mehr als 200 Jahre lang unter der Herrschaft der Seldschuken-Dynastie dominiert,13 die ein kultiviertes, von persischen Einflüssen geprägtes Königreich mit dem Zentrum Konya regiert hatte. Die Neuankömmlinge waren Halbnomaden, die stolz südwestliche (also oghusische, siehe Abb. 1.3) Turksprachen pflegten. Ihre Lebensweise basierte auf Raubzügen ebenso wie auf Viehzucht und dem Verkauf der Produkte ihrer Herden.14 Ihre heiligen Männer und Derwische waren darauf erpicht, den Islam in neue Länder zu tragen. Das Erscheinen dieser Vasallen der mongolischen Herrscher des Iran (der Ilchaniden, deren Herrschaft 1336 endete) hing mit Ereignissen des vorausgehenden Jahrhunderts zusammen, die jenseits des Horizonts ihrer eigenen Erinnerungen lagen. Damals hatte das Vordringen der Mongolen auf dramatische Weise die geschäftlichen und politischen Beziehungen im gesamten südwestlichen Eurasien gesprengt.
Gewalt, Seuchen und Unheil
Im Jahr 1219 hatte die Verwüstung von Choresm durch die Mongolen eine Zwangsmigration von Völkern aus dem zentralen Eurasien ausgelöst, die sämtliche Gesellschaften westlich des Kaspischen Meeres betraf. Unter den Flüchtlingen und Migranten befanden sich Tausende Turkmenen samt ihren Familien und Herden. Ihre Stammesgesellschaften waren hochgradig