»Ich bin ein kleines Mädchen und heiße Lise,« antwortete sie, »und es geschah dem Herrn Kometen ganz recht; am Sonntage braucht er keine Rechenstunden zu geben.«
»So?« sagte der Mondmann. »Was du nicht sagst! – Zur Strafe dafür, daß du den guten Kometen so geärgert hast, sollst du bei mir auf dem Monde jetzt zehn Jahre lang die Mondkälber hüten; da wirst du dich schon bessern. Ich kann dich sehr gut dazu gebrauchen, da du keine Flügel hast und mir nicht wegfliegen kannst.«
Dann befahl er dem Nordwinde, die fünf Engelchen wieder in den Sack zu tun und auf die Milchstraße zurückzutragen, die Lise aber solle er erst auf die Bergwiese zu den Mondkälbern herausbringen.
Der Nordwind tat, wie ihm geheißen, steckte die Englein in den Sack und setzte die Lise auf seine Schultern. Dann ging er den Berg hinunter und wieder einen anderen Berg hinauf. Oben angekommen, setzte er die Lise behutsam auf seine flache Hand, streckte den Arm aus, blies die Backen auf und pustete. Lise schrie auf; sie glaubte, sie würde herunterfallen; aber der Wind trug sie ganz gemächlich daher und setzte sie endlich sanft auf einer Wiese ab.
Sie hatte sich kaum von ihrem Schrecken erholt und war schon aufgestanden, als sie ein rauhes Blöken dicht neben sich hörte. Wahrhaftig, da standen etwa zwanzig scheußliche Geschöpfe um sie herum; das waren die Mondkälber. Sie hatten sehr lange, hohe Beine und einen Leib wie ein großes Kalb, dabei aber Schwänze wie Korkenzieher und kugelrunde Vollmondgesichter mit großen Mäulern, in denen alle Zähne kunterbunt durcheinanderstanden. Zudem sahen sie ganz unglaublich dumm aus.
Diese gräßliche Herde mußte sie hüten. Sie hatte schreckliche Mühe damit, denn immer war eins fortgelaufen, und sie mußte es wieder suchen, oder ein anderes hatte sich am Beine weh getan und blökte so entsetzlich, daß man meinte, es wäre am Sterben. Dabei waren die Geschöpfe sehr undankbar; sie traten die arme Lise, wo sie konnten, und schnappten nach ihr mit den häßlichen Mäulern.
Lise fühlte sich sehr unglücklich, und wie gerne wäre sie fortgelaufen, wenn sie nur gewußt hätte wie und wohin? Aber sie hatte ja leider keine Flügel und konnte nicht weg von dem runden Monde. – Da sah sie einmal, wie eine große Wolke sich auf dem Berge niederließ, auf dem sie ihre Mondkälber hütete. Sie kletterte rasch den Berg hinauf und sprang auf die Wolke. Die Wolke trug sie; sie lag so weich darauf wie auf Mutters Bett. Bald fühlte sie einen leisen Luftzug; die Wolke hob sich und segelte mit ihr davon. Sie hüllte sich ganz dicht hinein, damit der böse Mondmann sie nicht sehen könne.
So war sie schon eine tüchtige Strecke mit der Wolke durch die Luft gefahren, so weit weg, daß sie den Mond nicht mehr sehen konnte. Da merkte sie plötzlich, daß an ihrer Wolke gezogen wurde, erst an der einen, nun an der anderen Seite.
Dann hörte sie eine rauhe, brummige Stimme:
»Mir gehört die Wolke, weil ich sie zuerst angefaßt habe.«
Lise schaute hin und sah einen weißen Bären, der aus Leibeskräften an ihrer Wolke zerrte.
»Nein, mir gehört die Wolke, weil ich stärker bin als du!« brummte da von der anderen Seite eine noch viel rauhere Stimme.
Lise sah dorthin und bemerkte einen noch viel größeren und grimmigeren weißen Bären, der an der anderen Seite an der Wolke zerrte.
»Da liegt etwas auf der Wolke,« rief der große Bär, »wir wollen es in die Höhe schnellen!«
Der kleine Bär und der große Bär rissen beide zu gleicher Zeit an der Wolke, und Lise flog hoch in die Luft, um dann wieder auf die Wolke niederzufallen. Dies Spiel schien den beiden Bären zu gefallen; sie lachten und brummten und zogen immer wieder an der Wolke. Lise flog wie ein Ball in die Luft hinauf und fiel wieder hinunter.
Zuletzt aber rissen die Bären so stark an der Wolke, daß diese durchbarst und die Lise, die gerade wieder in die Luft geworfen war, mitten hindurch fiel. Dicker Regen fiel aus der Wolke hinab, und die Lise wurde patschnaß und fiel – und fiel – und fiel – immer tiefer und tiefer.
Endlich kam sie unten an; sie schlug die Augen auf und lag in den Armen ihrer Mutter.
»Brr!« sagte die Mutter und machte ihren Schirm auf, »es fängt tüchtig an zu regnen, wir müssen machen, daß wir nach Hause kommen.«
Die Gingsterhexe oder »Wie der Fasching entstand«
Sieben Quellen sprangen den Wald hinab, erzählte die Großmutter.
Die Prinzessin Fanfrilla lag in den gelben Büschen, zwischen der dritten und vierten Quelle. Sie stickte an einem Filetschürzchen, das wollte sie der alten Ginsterhexe schenken, die ihre richtige Urgroßtante war. Denn die Schwester ihrer Urgroßmutter, die Prinzessin Johanna Nepomucena Hubertina hatte damals, als sie noch ein junges Mädchen war, durchaus keinen Prinzen heiraten wollen, und auch keinen Grafen und keinen Fürsten oder Herzog. Die seien ihr alle viel zu dumm, hatte sie gesagt und dann hatte sie den krummbeinigen Zauberer Kakerlak geheiratet. Das hatte natürlich einen großen Skandal im ganzen Lande gegeben, aber darum hatte sich die Prinzessin gar nicht bekümmert. Sie war einfach mit Kakerlaken durchgegangen, war mit ihm durch die ganze Welt gereist und hatte überall herumgezaubert. Der alte Zauberer, der gar nicht mehr erwartet hatte, daß ihn auf seine alten Tage noch ein so hübsches, junges Prinzeßchen heiraten würde, gewann sie sehr lieb und lehrte sie zum Dank alle Zauberkunststücke und Hexengeheimnisse, die es auf der ganzen weiten Welt gab. Für die Prinzessin Johanna Nepomucena Hubertina gab es da so vieles und so schweres zu lernen und zu studieren, daß sie gar nicht einmal merkte, wie die Jahre vergingen, und sich sehr wunderte, als sie auf einmal hundert Jahre alt war.
Da bekam der gute Zauberer eines schönen Tages den Ziegenpeter, eine ganz dumme Krankheit, die man auch Mumps nennt. Erst meinte er, es wäre nichts, aber er wurde immer kränker und kränker. Nun war der alte Kakerlak schon an und für sich recht dick und häßlich, jetzt aber schwollen sein Hals und sein Kopf und seine Backen so sehr an, daß er genau so aussah wie ein Dudelsack. Er hätte sich ja gewiß sehr leicht heilen können, da er für alle Krankheiten, die es gab, die allerbesten Rezepte hatte, aber leider waren alle Rezepte nur lateinisch geschrieben, und der arme Kakerlak hatte gerade das lateinische Wort für Ziegenpeter vergessen und konnte sich durchaus nicht darauf besinnen.
Die Prinzessin, die auf der Mädchenschule kein Latein gelernt hatte, konnte ihm auch nicht helfen und so nutzte den beiden auf einmal alle Hexerei nichts. Als der Zauberer fühlte, daß sein letztes Stündlein herannahte, rief er aus:
»O Hohn der Weltgeschichte! Das Kapitol wurde durch Gänse gerettet, und Kakerlak, der berühmte Kakerlak, stirbt am Ziegenpeter!«
Dann sagte er noch einmal: »Morior«, was auf deutsch »Ich sterbe« heißt, um zu zeigen, daß er doch nicht all sein Latein vergessen hatte; drehte sich herum und war mausetot.
Seine Frau, die Prinzessin Johanna Nepomucena Hubertina, weinte sehr, wie es sich in einem solchen Falle gehört. Als der alte Zauberer begraben war, beschloß sie, in ihr Heimatland zurückzukehren und die nächsten siebzehn Jahre lang ordentlich Latein zu lernen, damit es ihr nicht auch so ergehe, wie dem seligen Kakerlak.
Krökel dem Ersten, dem Vater der Prinzessin Fanfrilla, der zu der Zeit König war, war das zwar anfangs gar nicht angenehm, aber einmal mußte er doch auf die alten Familienbeziehungen Rücksicht nehmen und dann – wenn er es auch nicht sagte – fürchtete er sich doch ein wenig vor der Zauberkunst der Alten. So erließ er denn ein großes Dekretum, daß an allen Anschlagsäulen im ganzen Königreiche aufgeklebt wurde. Jung und alt stand rund herum und las mit weit aufgesperrten Augen:
»W i r, K r ö k e l I.,
K ö n i g v o n u n d ü b e r U l a l u m e,
bestimmen und verordnen hiermit,
daß
die Frau Kakerlak, Witwe des Zauberers Kakerlak
selig, geborene Prinzessin Johanna Nepomucena
Hubertina von Ulalume
frei