»Doch, das geht«, widersprach er lächelnd. »Jelena möchte es so, und wir sind die Polizei.«
»Ich muss verrückt sein«, murmelte Sofia, bevor sie in den Dienstwagen stieg.
»Es ist unsere einzige Chance«, gab er ebenso leise zu bedenken.
Jelena saß angeschnallt auf dem Rücksitz und sollte nichts von Unmut und Zweifel bemerken. Optimismus war jetzt angesagt.
»Wir werden deine Natascha finden«, behauptete er und lächelte dem Rückspiegel zuversichtlich zu, als er sich ans Steuer setzte.
Sofia saß eine Weile schweigend neben ihm, bis er nach rechts abbog, Richtung Neva.
»Wo fährst du hin?«
»Jedenfalls nicht auf den Newski-Prospekt, nicht jetzt, am Vorabend der weißen Nächte. Ich habe keine Lust auf ein Touristenmassaker.«
»Pass auf, was du sagst, wir sind nicht allein!«, zischte sie.
»Entschuldigung – aber es ist doch wahr. In diesen Tagen könnte man glauben, es gäbe keine andere Straße als den Newski-Prospekt in unserer Stadt.«
»Ist ja gut, fahr einfach weiter und halt die Klappe.«
»Achtung, wir sind nicht allein«, echote er grinsend.
Jelena kümmerte sich nicht um ihr Geplänkel. Sie war vollauf damit beschäftigt, das ihr unbekannte Treiben auf den Straßen an diesem Nachmittag zu beobachten. Nach dem Stau auf der Brücke schafften sie den Rest der Strecke bis zur Ulitsa Nalichnaya in zwanzig Minuten. Das alte Haus aus rotem Sandstein versteckte sich hier zwischen Blöcken aus rohem Beton. Deshalb war es ihm seinerzeit aufgefallen. Jelena hatte aufgehört, aufgeregt nach allen Seiten zu gucken und die Nase am Seitenfenster platt zu drücken. Sie saß merkwürdig still auf dem Sitz, mit eingezogenen Schultern, als erwartete sie Schläge. Weckte die Gegend unangenehme Erinnerungen? Er fuhr langsam am Kanal entlang, unsicher, in welcher Richtung sich das Haus befand.
»Suchen wir überhaupt auf der richtigen Insel?«, flüsterte Sofia so leise, dass er es kaum verstand.
»Zwei Uhr«, antwortete er, ohne den Kopf zu bewegen.
Er hatte das rote Haus vorne rechts jenseits der kleinen Brücke entdeckt. Es war auch Jelena nicht entgangen.
»Natascha!«, schrie sie und versuchte aufzuspringen. Mit beiden Händen zeigte sie auf das Haus am andern Ufer.
»Da wohnt ihr, du und Natascha – bist du sicher?«, fragte Sofia, immer noch skeptisch.
»Da, da, Natascha!«
Hätte der Gurt sie nicht zurückgehalten, sie wäre stracks aus dem Auto gesprungen.
»Wir müssen jetzt ganz vorsichtig sein«, versuchte er ihre Begeisterung zu dämpfen.
Jelena ließ sich nicht beeindrucken. Sie zerrte am Gurt, wollte ihn öffnen. Es gelang ihr nicht, also schlüpfte sie kurzerhand unter dem Gurt hindurch. Die Tür stand schon einen Spalt offen, bevor er anhielt. Sein Wagen, ein Lada Samara, der sein zehnjähriges Dienstjubiläum auch schon hinter sich hatte, war nicht für den sicheren Transport von Kindern ausgerüstet. Im letzten Moment gelang es Sofia, das Energiebündel aufzuhalten. Jelena kratzte und keifte. Plötzlich begann sie zu weinen und ließ sich auf den Rücksitz fallen. Sofia setzte sich neben sie und nahm sie in die Arme. Er rieb sich die Schweißperlen von der Stirn. Der Dienstwagen war nicht der Einzige, der sich nicht für Kinder eignete.
Langsam fuhr er weiter auf die Brücke zu, nach einer geeigneten Stelle Ausschau haltend, wo er parken konnte, ohne vom roten Haus aus gesehen zu werden. Der Lada war zwar nicht als Polizeifahrzeug gekennzeichnet, aber Ganoven besaßen besondere Nasen, um Bullen zu riechen.
»Ihr beiden Damen müsst mir jetzt versprechen, ganz lieb zu sein und im Wagen zu warten«, sagte er, nachdem er den Motor abgestellt hatte. »Ich werde mich erst mal umsehen.«
Er nahm die Dienstwaffe aus dem Handschuhfach, kontrollierte sie, lud durch und steckte sie ein, bevor er ausstieg. Jelena in Sofias Armen machte keine Anstalten zu fliehen.
Die paar Schritte zur Straße lagen noch nicht hinter ihm, als wie aus dem Nichts drei ›GAZ Tigr‹, schwere, gepanzerte 4 × 4 der Polizei, auftauchten. Aus beiden Richtungen der Straße und von der Brücke her rasten sie mit heulenden Sirenen auf das rote Haus zu. Der vorderste Einsatzwagen durchbrach kurzerhand das Holztor zum Innenhof. Die beiden andern Fahrzeuge hielten vor dem Haus, versperrten so die Zugänge und blockierten die Straße. Jeder Tigr spie neun oder zehn Mann in grau-blauen Kampfanzügen aus, die Gesichter unter schwarzen Sturmmasken verborgen, ›Bizon‹ Maschinenpistolen schussbereit im Hüftanschlag. ›OMOH‹ (OMON) stand in großen, gelben Lettern auf dem Rücken.
Gregori rettete sich mit einem Fluch in den Schutz des staubigen Haselstrauchs an der Straße und dankte im Stillen der kleinen Jelena. Hätte sie ihn nicht ein paar Minuten aufgehalten, wäre er der OMON direkt in die Arme gelaufen. Die OMON als mobile Einheit mit besonderen Aufgaben gehörte zwar auch zur Polizei wie die Kripo, aber sie unterstand direkt dem Innenministerium. Die Typen der OMON lebten und wirkten in einer anderen Welt, die er bisher erfolgreich gemieden hatte. So sollte es auch bleiben, verdammt noch mal, sagte er sich und beschränkte sich aufs Beobachten. Er hoffte inständig, Sofia käme nicht auf dumme Gedanken. Es wäre nicht das erste Mal, würde sie sich unnötig exponieren. Seine Hoffnung ruhte wieder auf Jelena. Die Kleine hatte Sofias Mutterinstinkt geweckt, und das war gut so.
Das Sirenengeheul verstummte so plötzlich, wie es angefangen hatte. Außer vereinzelten scharfen Befehlen verlief die Aktion in beinahe unheimlicher Stille. Umso überraschter war er, als unvermittelt ein Motorrad aus dem Dvor auf die Brücke zu schoss. Eine Frau mit wehenden Haaren klammerte sich auf dem Rücksitz an den Fahrer. Sie reagierten nicht auf die lauten Rufe des SWAT-Teams, versuchten offensichtlich verzweifelt zu fliehen. Die Fahrt endete noch vor der Brücke. Eine Gewehrsalve schleuderte die Frau vom Rücksitz auf die Straße und streckte den Fahrer nieder. Das Motorrad prallte gegen einen Kandelaber, überschlug sich und schlitterte jammernd die Böschung hinunter in den Kanal. Fahrer und Passagierin blieben reglos im Staub liegen.
Es war kaltblütiger Mord. Jedenfalls schätzte er die Chance aufs Überleben der beiden auf ziemlich genau null ein. Die Projektile aus den ›Bizons‹ durchschlugen auf diese Entfernung auch Schutzwesten, und die beiden sahen nicht danach aus, als trügen sie welche. Er griff mechanisch nach seinem Handy, um die Rettung zu rufen. Ein leises Zittern seiner Hand kündete die Schockreaktion an. Er kannte das Gefühl zur Genüge. Was wollte er noch mal? Der Notarzt!
Ein Rettungswagen näherte sich mit Sirene und Blaulicht von der Innenstadt her, bevor er eine Taste gedrückt hatte. Das Handy verschwand in seiner Tasche. Abgelenkt durch Notarzt und Sanitäter, die sich um die leblosen Körper kümmerten, bemerkte er erst im letzten Moment, wie ein Kleinbus mit schwarzen Scheiben, ähnlich einem Leichenwagen, in den Hof des roten Hauses fuhr. Was zum Teufel ging hier vor? Er konnte nicht länger tatenlos zusehen, verließ seine Deckung und näherte sich mit gezücktem Dienstausweis der nächsten Gruppe OMON, die den Haupteingang sicherte.
»Colonel Gregori Makarov«, rief er von Weitem. »Ich muss den Kommandanten sprechen.«
Vier MPs zielten auf seinen Brustkorb. Die Gewehrläufe senkten sich erst, als er nah genug getreten war, dass die Männer den Ausweis lesen konnten.
»Was wollen Sie?«, fragte einer unwirsch.
»Den Kommandanten sprechen, sagte ich schon.«
Der Sprecher des Teams blitzte ihn aus jugendlichen Augen an. Der Kerl war bestimmt keine dreißig und noch grün hinter den Ohren, was die Diensterfahrung betraf. Dennoch oder gerade deswegen war äußerste Vorsicht angesagt. Um in die OMON aufgenommen zu werden, taten diese jungen Wilden alles. Die Durchfallquote bei der Aufnahmeprüfung betrug achtzig Prozent, wurde gemunkelt. Das wussten die erfolgreichen zwanzig Prozent und führten sich entsprechend als unbezwingbare Meister des Universums auf. Widerwillig sprach der junge Mann nach kurzer