Vernichten. Hansjörg Anderegg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hansjörg Anderegg
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783967526974
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Winter, die Eisprinzessin, hatte ihre Scheidung auch nach Jahren immer noch nicht überwunden, immerhin ein Zeichen, dass sie auch Gefühle besaß, negative zumindest.

      »Ich muss leider zurück ins Büro«, entschuldigte sie sich bei Jeanne mit einem Seufzer.

      Sie stand auf, betrachtete sich von allen Seiten im Spiegel und lobte das gelungene Meisterwerk. Ohne Zopf fühlte sie sich leicht, beschwingt gar und um Jahre jünger. Jeanne betrachtete sie in stiller Bewunderung ihrer Arbeit. Die Augen glänzten oder waren es Freudentränen?

      »Was geschieht mit dem schönen Haar, Madame?«, fragte sie tonlos.

      Chris hatte den alten Zopf beinahe vergessen. Die Zeit drängte, die beste Voraussetzung für gute Einfälle. Mit einem letzten Blick auf die verlorene Haarpracht sagte sie:

      »Den Zopf schenke ich Ihnen.«

      »Neiiin!«

      Wieder hörte die Welt auf, sich zu drehen. Die Chefin materialisierte sich wie aus einer höheren Dimension. Bevor sie die Standard-Frage stellen konnte, bekräftigte Chris ihren Entschluss:

      »Ich schenke den Zopf meiner Künstlerin Jeanne.«

      Um deren drohende Ohnmacht zu verhindern, drängte sie zum Aufbruch. Zum Abschied flüsterte sie der Guten ins Ohr:

      »Nicht zu billig verkaufen, Jeanne, mindestens fünfhundert – und grüßen Sie mir Paris.«

      Jens Haase füllte neue Bohnen in seine Espressomaschine, als sie eintrat. Er blickte nur kurz auf.

      »Sie wünschen?«

      Danach widmete er sich wieder dem Kaffee, seiner großen Leidenschaft. Er kannte jede exotische Bohne und besaß sie auch.

      »Herr Haase, Jens Haase?«, fragte sie lächelnd.

      »Ja, was …«

      Er stockte, starrte sie mit offenem Mund an, sprachlos. Das war an sich nichts Ungewöhnliches. Sprechen gehörte nicht zu seinen Leidenschaften. Er war der stille Schaffer im Präsidium, mit allen nützlichen Datenbanken per du und gehörte, seit sie sich erinnern konnte, zum Inventar wie das Mobiliar – mit vergleichbarer Präsenzzeit. Sie vermutete schon lange, er wohne im Büro, hatte allerdings sein Bett noch nicht gefunden. Vielleicht brauchte er keins bei dem Kaffeekonsum.

      »Bekomme ich auch einen Ristretto?«, fragte sie, um den Bann zu brechen.

      »Sie sind es wirklich – das ist ja …«

      »Anders, wollten Sie sagen?«

      »Praktisch.«

      Sie brach in Gelächter aus. Ein besseres Urteil zu ihrer neuen Erscheinung war von seinem analytischen Verstand nicht zu erwarten. Sie nahm es als Kompliment, denn praktisch war die Kurzhaarfrisur allemal, viel praktischer als der Rapunzel-Zopf.

      »Herr Haase, hat sie sich bei Ihnen gemeldet?«, fragte Staatsanwältin Winter hinter ihrem Rücken.

      Sie drehte sich in Zeitlupe um. »Meinen Sie mich?«

      Eine Schrecksekunde blieb es still. Winters Augen blitzten kurz auf, bevor sie in der üblichen, tiefgefrorenen Tonlage fragte:

      »Wo stecken Sie die ganze Zeit? Ich habe mehrfach versucht, Sie anzurufen. Kommen Sie!«

      Chris hatte eine ironische, ja zynische Bemerkung zur schrägen Ponypartie erwartet und sich auf den Schlagabtausch gefreut – aber nicht nichts. Enttäuscht nahm sie die Tasse, die Haase ihr reichte, murmelte etwas von »leerem Akku« und folgte Winter ins Büro der Staatsanwaltschaft. Sie versuchte, das eisige Schweigen mit der Versicherung zu brechen, der verlangte Abschlussbericht würde pünktlich bis Mittag auf ihrem Schreibtisch landen.

      »Es geht nicht darum«, gab die Staatsanwältin nervös zurück.

      Als sie sich gegenübersaßen, schob sie eine Akte über den Tisch.

      »Das LKA hat Mist gebaut. Lesen Sie!«

      Fälle, in denen sie Kollegen an den Karren fahren musste, hasste sie besonders, und Winter wusste es. Sollte das eine Art Strafaktion werden für häufige Alleingänge? Bevor sie die Akte aufschlug, suchte sie die Antwort in Winters Augen, doch da gab es nichts zu lesen.

      Der Bericht begann wie einer von tausend Fällen, denen sie in der Abteilung für schwere und organisierte Kriminalität täglich begegnete. Das einzig Ungewöhnliche schien der Ort des Verbrechens zu sein, jedenfalls aus Sicht des Bundeskriminalamts. Zwei deutsche Staatsbürger, das Ehepaar Martha und Tobias Meier aus Berlin, waren in einem Hotelzimmer in Sankt Petersburg erschossen aufgefunden worden. Bei der Lektüre des zweiten Abschnitts konnte sie einen Ausruf der Überraschung nicht unterdrücken.

      »Verdeckte Ermittlungen des LKA in Sankt Petersburg?«, murmelte sie ungläubig.

      »Verstehen Sie jetzt, was ich mit Mist meine?«

      »Allerdings.«

      Martha und Tobias Meier waren unter falscher Identität nach Russland eingereist. In Wirklichkeit handelte es sich um die Kommissare Katharina Bach und Malte Friedmann vom LKA. Über den Grund des verdeckten Einsatzes blieb der kurze Bericht vage mit dem Verweis auf die Ermittlerin in Berlin, Hauptkommissarin Monika Weber vom LKA 4, zuständig für organisierte Kriminalität und Bandendelikte.

      »Ich möchte, dass Sie diesen Fall übernehmen, Dr. Roberts«, sagte die Staatsanwältin. »Finden Sie die Täter von Sankt Petersburg, und finden Sie um Gottes willen heraus, was da im LKA falsch läuft.«

      Es war eine Bitte, kein Befehl. In Winters Stimme schwang ein Hauch banger Hoffnung mit. Chris sparte sich die Diskussion um Zuständigkeiten. Sie wussten beide, dass dieser Doppelmord ein Fall für die russischen Behörden war. Aber die Tatsache, dass es sich bei den Opfern um deutsche Polizisten handelte, deren Identität und Aufgabe auf keinen Fall an die Russen durchsickern durften, barg erheblichen Sprengstoff.

      »Da werden meine drei Lektionen Russisch nicht weiterhelfen«, versuchte sie zu scherzen.

      Winter ignorierte die Bemerkung.

      »Dank der grenzenlosen Dummheit der Kollegen vom LKA stehen wir unter einem enormen Druck. Das werden Sie verstehen. Die Sache erfordert äußerstes Fingerspitzengefühl. Der Fall ist Verschlusssache und streng geheim. Ich muss über jeden Schritt informiert sein und ich genehmige jeden Zugriff Dritter auf die Akten. Sonst haben Sie freie Hand. Haben wir uns verstanden?«

      »Ich bin also auf mich allein gestellt«, fasste Chris nüchtern zusammen.

      Winter versuchte zu lächeln. »So kann man es auch ausdrücken.«

      Chris wandte sich zum Gehen. »Haben Sie die Kollegin Weber schon vorgeladen?«

      Winter schüttelte den Kopf. Bevor sie das Büro verließ, wandte sie sich noch einmal an sie:

      »Dr. Roberts …«

      »Ja?«

      »Sieht schick aus, die neue Frisur, gefällt mir.«

      »Danke«, antwortete sie perplex, nach Hintergedanken forschend.

      »Ich habe mir auch schon überlegt, so etwas machen zu lassen.«

      Bloß nicht!, dachte sie erschrocken und zog die Tür hinter sich zu. Für einmal konnte sie den Ärger der Staatsanwältin über die Dilettanten im LKA nachvollziehen. Sie war versucht, die harte Tour zu fahren, Hauptkommissarin Weber wie eine Verdächtige vorzuladen und ihr erst einmal die Leviten zu lesen. Nachdem sie Haase mit den notwendigen Informationen über den Fall vertraut gemacht hatte, entschied sie sich für die wissenschaftliche Methode: beobachten, zuhören und erst dann Schlüsse ziehen.

      Eine halbe Stunde später betrat sie das LKA-Gebäude am Tempelhofer Damm. Das Erste, was ihr an Monika Weber auffiel, war die tiefe, männliche Stimme. Sanft, angenehm, aber sie passte nicht zu den harten, fast abgehärmten Gesichtszügen. Die Frau, zwanzig Jahre älter als sie, erweckte den Eindruck, als wäre sie schon etliche Male durch die Hölle gegangen, zuletzt wohl am Vortag bei der Nachricht aus Sankt Petersburg.