»Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht«, sagte er. »Es tut mir leid. Kann ich es mit einem Kaffee wiedergutmachen?« Er glaubte, sein Herz pochen zu hören, als er die Hand ausstreckte und verlegen zu lächeln versuchte. »Felix.«
»Sarah«, hauchte sie, senkte den Blick und huschte davon.
»Mit oder ohne H?«, murmelte er mit sturem Blick.
Sie war verschwunden, als sich der Verstand wieder einschaltete. Immerhin hatte er drei Dinge gelernt. Er kannte jetzt ihren Namen, wenn er ihn auch nicht mit Sicherheit richtig schreiben konnte. Zweitens duftete sie ebenso gut, wie sie aussah und drittens – das Wichtigste – errötete sie, als sie sich gegenüberstanden. Die Vorstellung, eine Chance bei ihr zu haben, verlieh ihm Flügel. Er rannte auf den Ausgang zum Parkplatz zu, wo er sie vermutete. Keine der Blondinen war seine. Enttäuscht stieg er ins Auto. Der Motor lief schon, als die Erinnerung ans Spektrometer zurückkehrte. Seufzend stellte er den Motor ab und stieg wieder aus. Felix, dich hat es schlimm erwischt. Es war das Vierte, was er an diesem Tag lernte: Möglicherweise gab es noch andere Dinge im Leben als gefaltete Moleküle.
Maria parkte vor dem Schuppen neben dem Haus in Wollmatingen, der alles enthielt, was in den wenigen Büros und im Labor der Firma ›Herzog Green Chemicals‹ nicht Platz fand. Die Nachwuchs-Akademiker, die hier ihr Praktikum absolvierten oder etwas Geld fürs Nachdiplomstudium und die Doktorarbeit verdienten, saßen an ihren Computern. Im Labor sah sie nur den Laboranten.
»Wo ist Felix?«
Der junge Mann unterbrach die Arbeit am Spülbecken und zuckte die Achseln.
»An der Uni nehme ich an.«
»Was – immer noch?«
Das Enzym musste eine sehr komplexe Struktur haben. Sie bat den Laboranten, ihr beim Ausladen zu helfen. Stroh war ein leichter Werkstoff, solang man es nicht zu Ballen presste.
Ein feines Stimmchen unterbrach wenig später ihre Arbeit im Schuppen:
»Was machst du?«
Emmas kleiner Sohn Julian stand neben dem Minivan. Er erkannte das rote Auto seiner Tante Maria von Weitem. Sie legte die Baumschere weg, mit der sie das Gebinde des einen Strohballens auftrennen wollte.
»Wo kommst du denn her, mein Großer?«
Er sprang in ihre Arme, um sich sogleich zu befreien, als sie ihm einen herzhaften Kuss auf die Wange drückte. Im nächsten Atemzug saß er auf dem Stroh und fragte:
»Was machst du damit?«
»Weißt du überhaupt, was das ist?«
»Ein Bett.«
Zum Beweis legte er sich darauf und schloss die Augen. Der Junge war schon jetzt nie um eine Antwort verlegen, wie seine Mutter.
»Als Bett kann man es auch brauchen, das stimmt«, gab sie lachend zu. »Früher haben viele Leute auf Stroh geschlafen. Heute tun es meist nur noch Pferde und Ponys.«
»Ponys sind doof«, rief er und sprang auf.
Die Baumschere weckte sein Interesse. Sie war schneller und brachte das gefährliche Werkzeug in Sicherheit. Er ließ nicht locker.
»Was machst du damit?«
»Mit der Schere schneide ich die Schnüre auf, die das Stroh zusammenhalten.«
Sie zeigte es ihm, sorgsam darauf bedacht, ihn auf Abstand zu halten. Der Junge war flink wie ein Wiesel.
»Warum?«
»Ich muss das Stroh auseinandernehmen und dann zerkleinern.«
»Warum?«
»Unsere kleinen Tierchen im Labor können Strohschnipsel besser essen.«
»Die Tierchen im Fernsehen?«
»Ja, die Bakterien, die ich dir auf dem Computerbildschirm gezeigt habe.«
»Die essen das?«
Er kaute auf einem Halm und spuckte ihn angewidert aus.
»Die Bakterien machen aus dem Stroh wertvolle Sachen – wie Rumpelstilzchen.«
Der Vergleich war ihr ungewollt entschlüpft. Statt weiterarbeiten zu können, besaß sie jetzt seine volle Aufmerksamkeit.
»Wer ist Rummelpilzchen?«
»Rumpelstilzchen«, korrigierte Emma lachend.
Julians Mutter trat auf sie zu und drückte beide an die Brust. Maria entschuldigte sich:
»Tut mir leid, Schatz, ich hätte das Märchen nicht erwähnen sollen, zu brutal für Julian.«
Emma lachte sie aus. »Papperlapapp, Julian liebt Märchen, stimmt‘s?«
»Ja – Rummelpilzchen, Rummelpilzchen!«, rief der Kleine und tanzte auf dem Stroh herum wie Rumpelstilzchen vor der Hütte im Wald.
»Da siehst du‘s«, grinste Emma. »Jetzt musst du ihm die Geschichte erzählen. Du hast keine Wahl.«
Tante Maria als Märchentante. Natürlich fehlte ihr die Zeit dazu. Sie wollte aufbegehren, doch Julians große Augen hingen so erwartungsvoll an ihren Lippen, dass sie nur einen Seufzer zustande brachte.
»Also komm her, Großer, setz dich auf meine Knie.«
Während er die bequemste Haltung suchte, lud sie Grimms Märchen vom Rumpelstilzchen vom Internet auf den Handy Bildschirm. Sie erinnerte sich nur an den Kern der Geschichte. Ein Junge wie Julian aber brauchte alle Einzelheiten. Emma schien sich köstlich zu amüsieren.
»Ich bin oben in der Wohnung«, sagte sie mit gemeinem Grinsen auf den Stockzähnen und verschwand.
Nach einem weiteren Seufzer begann Maria zu erzählen:
»Es war einmal ein Müller, der war arm, aber er hatte eine schöne Tochter …«
Das Märchen vom Wicht, der aus Stroh Gold spinnen konnte, wäre schnell erzählt gewesen, hätte Julian einfach zugehört. Für den Kleinen war alles neu. Nach hundert Exkursen ins Handwerk des Müllers, den Sinn von Spinnrädern und den Wert des Goldes vermochte er immerhin den Zungenbrecher Rumpelstilzchen korrekt auszusprechen. Die Vorlesung dauerte so lange, bis Emma aus der Wohnung zurückkehrte und Julian zum Aufbruch drängte. Die beiden wohnten nicht bei ihr – leider. Andererseits hatte die räumliche Trennung durchaus ihre Vorteile, wenn sie an die Arbeit dachte, die liegengeblieben war. Bevor er ging, sah ihr der Junge tief in die Augen und fragte:
»Kannst du auch aus Stroh Gold machen?«
So klein er war, er hatte den Zweck des Unternehmens ›Herzog Green Chemicals‹ in vier Wörtern zusammengefasst: Aus Stroh Gold machen. Sie konnte die Frage nur mit einem klaren Ja beantworten.
»Dann bist du Rumpelstilzchen!«, rief er und rannte davon.
Emma wollte ihn einfangen, doch sie hielt ihre Lebensgefährtin zurück.
»Warte, Julian geht schon nicht verloren. Wir müssen uns mal ernsthaft unterhalten.«
»Tun wir doch die ganze Zeit.«
»Du weichst aus. Ich merke doch, dass etwas nicht stimmt. Dich bedrückt etwas. Warum sprichst du nicht mit mir?«
Mit mir ist alles in Ordnung – mit uns – glaub mir.
»Hat es mit deiner Arbeit zu tun, mit der Nacht, als du weg warst?«
Emma zögerte. Auf Julians Ruf