Ja, was denn jetzt?
Die textilen Seitenwände des Pavillons dienten je nach Jahreszeit und Witterung als Sonnen-, Regen- oder Windschutz und wurden an manchen Tagen mehrfach ab- oder aufgebaut. Zu zweit war das kein Problem, machte im Gegenteil sogar Spaß. „Ihr seid wie die kleinen Kinder“, kommentierte Frau Schulte das Treiben dann.
Allein mochte Helene nicht hier sitzen und weil die Möbel ohnehin beim Rasenmähen störten, landeten sie im Keller. Sogar der Garten trauerte um Jutta.
Das Stück unter der Eisenbahnbrücke legte Helene im Eilschritt zurück. Oben donnerte die S-Bahn Richtung Innenstadt, vor der Auffahrt auf die A59 beschleunigten die meisten Autofahrer und ließen die Motoren so richtig aufheulen. Hinter vielen LKWs wehte eine graublaue Dieselwolke.
Im Dreispitz wohnte ihre Schulfreundin Insa. Schade, dass der Kontakt irgendwie abgebrochen ist. Im Grunde war Insa Juttas Freundin.
Mutter konnte es nicht leiden, wenn ihre Tochter allein zuhause blieb. „Du gehst doch wohl nicht ohne deine Schwester“, hatte sie Jutta oft vorwurfsvoll hinterher gerufen, wenn sich die Schülerin nachmittags verabschiedete. Während Jutta dann je nach Stimmung mal ergeben, mal wütend „Komm“, hervorstieß, zog sich Helene bewusst langsam Schuhe und Jacke an, hielt den Rücken gerade und blickte ihre Schwester trotzig an. Sie waren neun und Jutta wagte es nicht, sich der mütterlichen Autorität zu widersetzen.
„Guten Morgen, Frau Schneider, Sie möchten bestimmt die beiden Bratwürstchen für Ihre Nachbarin abholen“, grüßte die Metzgerfrau. „Was? Ja, richtig. Guten Morgen“, gab Helene abwesend zurück.
„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“ Die Frage war nichts als Routine, von der nörgeligen alten Jungfrau erwartete die Verkäuferin nichts weiter als ein spitzes „Nein, danke.“
Doch zu ihrer Überraschung blickte Helene in die Theke und ließ sich zwei Scheiben Corned Beef abschneiden.
Bloß nicht zu viel, dachte die Verkäuferin, sagte aber freundlich: „Ja, noch was?“ In den folgenden Minuten wurde nicht nur ihre, sondern auch die Geduld einiger weiterer Kunden auf eine harte Probe gestellt.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis Helene sich entschieden hatte, zwei Scheiben gekochten Schinken, ein hauchdünnes Stück Fleischwurst ohne Knoblauch und 100 Gramm Schinkenblockwurst auszusuchen.
„Mensch, hamm´ Ses bald, andere müssen zur Arbeit“, platzte einem Kunden nun endgültig der Kragen. Helene ignorierte sowohl diese wie auch die Bemerkung des Schülers: „Hättest ruhig Knobiwurst nehmen können. Bei dir hält jeder ohnehin Abstand.“
Zwei Bons, doppelt abgezähltes Geld. Tschüss!
„War das nicht die Frau, deren Zwillingsschwester so plötzlich verstorben ist?“, erkundigte sich eine Frau.
„Sie kann einem leidtun. Man sagt ja immer, diese Geschwister hätten ein besonders enges Verhältnis. Ich glaube, sie ist noch vergrämter geworden“, fügte sie hinzu.
Einsamkeit lässt Menschen sonderlich werden. Tapetenwechsel und Urlaub sah die Frau als Lösung.
„Apropos Urlaub – wo geht es denn dieses Jahr hin“, griff die Verkäuferin das Thema dankbar auf.
Zeit zum Ausruhen blieb Helene am Samstag nicht. Sie hatte gerade den Rasenmäher aus der Garage geholt, wollte den Motor starten, als Frau Schulte das Wohnzimmerfenster öffnete. Das dicke Sofakissen, das sie sich im Rahmen zurechtlegte, ließ Helene befürchten, die alte Frau würde sich auf ein längeres Gespräch einrichten.
„Hör ma, Helene. Ich hab heut´ schon mitti Sigrid dadrüber gered´. Willze Juttas Wohnung nich endlich vermieten?“, sagte sie in freundschaftlichem Ton. Wusste ich doch, dachte Helene.
„Dat hätt für dich nur Vorteile. Du weißt schon, Mieteinnahmen. Und Heizen müsstese oben auch nich mehr“, versuchte die alte Frau sie zu ködern.
Ihr kleine Besorgungen abzunehmen, ist ein Fehler, ärgerte sich Helene.
Vor lauter Langeweile hatte sie nicht besseres zu tun, als mit der Putzhilfe zu tratschen. „Ich hab jetzt keine Zeit“, sagte Helene.
„Ach, Kind, sei nicht eingeschnappt. Mit dem neumodischen Kram ist das Mähen ja wirklich kein Problem mehr. Wenn ich da noch an die schmalen Handmäher von früher denke…“ Den Rest der Ansprache verschluckte der laute Motor.
Nach dem Unkrautzupfen im Vorgarten genoss Helene minutenlang die warme Dusche.
„Das ist dein Ressort, ich kann das nicht“, hatte sie sich früher stets vor der Arbeit zu drücken versucht. „Dann stellen wir eben Bücherregale vors Haus. Schon ist es dein Job“, schlug Jutta dann lachend vor.
Eine andere Welt
Helene stieg die Treppe hinauf und betrat die unbewohnten Räume.
Gewohnheitsgemäß stapelte Sigrid die Post auf der Flurkommode. Im Laufe der vergangenen Monate ebbte die anfängliche Briefflut ab. Noch immer fühlte sie sich unwohl beim Öffnen der nicht für sie bestimmten Korrespondenz. Kontoauszüge.
Sie musste endlich endscheiden, wie es mit dem kleinen Geschenkelädchen weitergehen sollte. Heute nicht. Dazu war sie zu müde und für Entscheidungen…
Warme Terrakottafarben und zartes Gelb bestimmten die Räume. Das merkwürdig eckige Sofa passte nach Helenes Geschmack so gar nicht zu den wenigen Kiefernholzmöbeln.
Jutta brauchte Platz. Nur die Räume nicht überfrachten, lautete ihr Credo. Blauer Teppich, blaue Bilderrahmen, na ja. – Alle in Din A3.
Helene setzte sich einen Moment auf „ihren“ Platz und ließ die Atmosphäre auf sich wirken.
Das riesige bodentiefe Giebelfenster flutete das Zimmer mit hellen, warmen, freundlichen Sonnenstrahlen. Sigrids Ärgernis-Objekt. „Habt ihr, als ihr euch für dieses Fenster entschieden habt, je gefragt, wie das geputzt werden soll?“
Juttas bevorzugtes Bildmotiv: Natürlich Wasser, wohin das Auge blickte, Sommerstimmung. Ein kleines Schiff im Hafen von Wittdün.
Eine Tour „Rund um die Insel“ mit der „Eilun“ gehörte zu Juttas Pflichtprogramm im Sommer. Seehunde genießen ungestörte Ruhe. Sonnenuntergang, mal vor wolkenlosem, mal vor leicht bewölktem Himmel. Hat sie das Bild doppelt? Nein, beim Nächsten ist der rote Ball ein Stück tiefer im Wasser versunken.
Vor einem Fahrradverleih nehmen Urlauber Drahtesel in Augenschein. Kommen die sich da nicht gegenseitig in die Quere?
Die Tischdecke müsste wieder gewechselt werden, stellte Helene fest, während sie sich im Raum umsah.
Nachdem Sigrid sich strikt geweigert hatte, regelmäßig wenigstens alle zwei Wochen frisches Obst auf den Teller zu legen, arrangierte Helene ein wenig Sand und verschiedene Muscheln darauf.
So hatte sie wenigstens ein bisschen das Gefühl, Juttas Geschmack getroffen zu haben. Obwohl sie glaubte, es läge noch ein wenig der frische Duft ihres Lieblingsparfüms in der Luft, wirkte die Wohnung wie das Vorzeigeexemplar eines Möbelgeschäftes. Menschenleer im wahrsten Sinne des Wortes.
Keine Strickjacke über der Stuhllehne, keine zusammengefaltete Wolldecke auf der Couch. Helene ging hinüber ins Schlafzimmer.
Während sie vorsichtig den Kleiderschrank öffnete, beschlich sie das Gefühl, eine Spionin, eine Diebin zu sein. Mit einem lauten Knall schloss sie den Schrank und verließ die Wohnung, in der sie auch ein Stück ihrer Trauer bewältigte.
Neben der Tür hing das neueste Foto. Helene hatte es aufgehängt. Es war eine der letzten Aufnahmen, die Jutta kurz vor ihrem Tod gemacht hatte.
Die Kamera