Helene traute sich kaum vorzustellen, wie ihre Hand stinken würde. Unbedacht hielt sie dem Hund den Keks so entgegen, wie sie ihn angenommen hatte: zwischen Daumen und Zeigefinger. Vorsichtig streckte das Tier den Kopf nach vorn, öffnete die Lippen und nahm den Leckerbissen.
„Sie hätten das Leckerchen in die flache Hand legen müssen“, sagte Brassert. Erwartungsvoll saß der Hund vor Helene.
„Nehmen Sie doch bitte einmal seine Lefzen hoch, ich möchte mir sein Gebiss ansehen“, bat die Tierschützerin. „Was Sie von mir verlangen, ist eine Zumutung“, entgegnete Helene, kam jedoch der Bitte nach. Wenn jemandem die Berührung unangenehm war, dann nicht dem Hund.
„Alles tadellos, der ist noch kein Jahr alt“, schätzte Brassert. „Wenn ich mich nicht täusche, handelt es sich um einen reinrassigen Bearded Collie. Aber genau kann das nur der Tierarzt sagen“, schränkte sie ein.
„Na dann viel Spaß noch“, verabschiedete sich Helene, schob den zotteligen Vierbeiner zur Seite, setzte sich hinter das Lenkrad ihres Wagens, schaltete die Zündung ein und steuerte das Auto aus der Parklücke, an einigen Fahrzeugen vorbei auf die Straße .
Beim Blick in den Rückspiegel schien es ihr, als stünde ihr kurzzeitiger Begleiter wie erstarrt.
Zuhause angekommen brühte sie sich einen Tee auf und schrubbte nach kurzer Pause Bad, Flur, Wohnzimmer und Küche.
Plötzlich musste sie an den traurigen Hundeblick denken. Was mochte das Tier erlebt haben?
Im Wohnzimmer neben der Tür wäre Platz für den Hundekorb, kam ihr in den Sinn. Nein, Quatsch, idiotische Vorstellung.
Dicke Regentropfen trommelten von außen gegen die Fensterscheibe. Wie gut, dass sie im Trocknen saß.
Helene hatte bewusst den Donnerstag als ihren freien Tag ausgewählt. Motiviert und mit Schwung bewältigte sie so die beiden stressigsten Arbeitstage der Woche. Freitags hatten es die Kunden oft besonders eilig. Samstags kamen meist Paare, die viel Beratungsbedarf hatten, sich nach dem Gespräch noch miteinander über das jeweilige Buch unterhielten, um am Ende zu der Überzeugung zu gelangen, man könne sich den Band ebenso gut in der Bücherei ausleihen.
Merkwürdig, dass Helene trotz der vielen Arbeit immer wieder an den dicken Zottel denken musste.
Schon allein, um ihr Gewissen zu beruhigen, wollte sie am Sonntagnachmittag im Tierheim vorbeischauen.
Ihre Pause nutzte sie zum Einkauf in einer Zoohandlung. Sie entschied sich für Spielzeug und Knabbereien. Vorsichtshalber behielt sie den Kassenbon. Der Hund hatte sicher neue Besitzer gefunden, redete sie sich ein. Deshalb konnte sie bei schlechtem Wetter auch getrost in der Wohnung bleiben.
Am Sonntag schließlich ertappte sie sich beinahe dabei, die nötigen Aufräumarbeiten eilig zu erledigen.
Im Tierheim wurde sie mit freudigem Gebell begrüßt. Etliche Vierbeiner rieben ihre Nasen an den Gitterstäben, um nur ja von Helene beachtet zu werden. An verschiedenen Stellen des Grundstücks unterhielten sich Mitarbeiter des Tierheims mit Besuchern, die ihrerseits gerade irgendeinen Hund streichelten.
Helene war verwundert und gleichzeitig irgendwie erleichtert, als sie nirgends den dicken Zottel entdeckte.
„Guten Tag, kann ich Ihnen weiterhelfen?“, erkundigte sich eine Frau in Gummistiefeln, grüner Latzhose und Karohemd. „Was, nein danke. Ich wollte nur mal gucken“, stammelte Helene.
„Vielleicht möchten Sie ja einen Spaziergang mit einem unserer Hunde machen “, knüpfte die Tierpflegerin den Gesprächsfaden weiter.
„An was für einen Hund dachten Sie denn? Sollte es ein eher kleiner, oder ein größerer, ein sportlicher oder besser ein ruhiger sein“, hakte sie nach und erkundigte sich auch, ob Helene bereits Erfahrung im Umgang mit Hunden hatte.
Helene hörte gar nicht richtig zu, sondern schaute sich suchend um. Erst jetzt bemerkte sie, dass nicht alle Hunde nach vorn an die Stäbe gekommen waren. Einige lagen apathisch, oder ängstlich dreinblickend abseits.
„Ist Frau Brassert heute nicht da?“, erkundigte sich Helene. „Gerade unterwegs“ lautete die knappe Antwort. Einen Augenblick lang sah die Frau Helene prüfend an.
„Jetzt weiß ich, wer sie sind. Heike hat sie uns beschrieben. Sie haben den Bearded Colly g-e-f-u-n-d-e-n“, sagte sie misstrauisch. „Wo ist er denn?“, fragte Helene.
„Ein Hund ist kein Spielzeug, das man einfach abschieben kann, wenn es einem gerade in den Kram passt. Sie scheinen ein schlechtes Gewissen zu haben. Na, zeigen Sie mal her, was Sie da mitgebracht haben.“ Ihr Ton klang eine Spur versöhnlicher. Von oben herab.
Helene zog den Beutel mit den Hundesnacks aus der Tasche. „Einige Stückchen drücke ich hier in die Löcher dieses Zahnpflegeknochens“, fügte Helene hinzu.
Einen Moment lang starrte die Tierheimmitarbeiterin überrascht auf den blauen Stab.
Dann lachte sie so laut, dass sie die Blicke selbst der entferntesten Besucher auf sich zog.
„Sie haben wirklich keine Ahnung“, glaubte Helene dann zu verstehen, während sie sich beeilte, mit der Frau Schritt zu halten.
Als sie Helenes verärgerten Blick bemerkte, entschuldigte sich die Tierheimmitarbeiterin schnell.
Sie gingen an den Boxen entlang. Das laute Kläffen eines Tierheimbewohners ließ Helene unwillkürlich einen Schritt zurückweichen.
Sein Nachbar zur Linken wiederum versuchte Helenes Aufmerksamkeit mit einem charmanten Blick auf sich zu ziehen.
Sehr sauber hier. Manche Boxen sind sogar leer. Von Überbelegung also keine Spur. Hat er es doch gar nicht so schlecht hier, ging es Helene durch den Kopf.
„Nach dem Gesundheitscheck beim Arzt und einer gewissen Quarantänezeit können sich die Hunde im Freilauf austoben, wenn sie sich mit ihren Artgenossen vertragen“, sagte die Tierpflegerin.
Vorgestellt hatte sie sich nicht, dafür konnte sie Gedanken lesen.
„Seit Tagen liegt er so da, frisst nicht, trinkt nicht. Und das bei der Hitze“, erklärte sie schließlich.
Minutenlang stand Helene vor der Box, ohne dass sich das Tier rührte.
„Ist er tot?“ fragte sie traurig. In diesem Augenblick wandte sich der Hund ihr zu, erhob sich schwerfällig. Die Frau in der Latzhose öffnete die Box.
Als sei in seinem Kopf ein Schalter umgelegt, wirkte er plötzlich hellwach und sprang mit einem Satz so unerwartet auf Helene zu, dass sie fast umgefallen wäre.
Ohne zu zögern steckte er den Kopf in die Tasche und nahm sein Geschenk, das sich zum Glück zusätzlich in einer Plastiktüte befand, selbst heraus. Wohlig schmatzend biss er auf das Kunststoffteil.
Die Hundezahnbürste war für ein so starkes Gebiss offenbar nicht konzipiert. Blaue Einzelteile fielen zu Boden, manche kullerten noch ein Stück.
Der Collie suchte den Boden nach den Leckerchen-Bröckchen ab.
Als er alle verspeist hatte, nahm er ein Zahnrad in die Schnauze und legte es stolz Helene in die Hand.
Sabber tropfte aus seinen Lefzen. „Igitt“, entfuhr es Helene. Sie wich einen Schritt zurück und ließ prompt das Geschenk fallen.
„Wo kann ich mir die Hände waschen?“, rief sie mit einem Anflug von Panik in der Stimme. Der Hund erschrak und zog sich in die hinterste Ecke zurück.
„Ich komme mit Tieren eben nicht klar“, sagte Helene, machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Tierheim ohne der Tierpflegerin in die Büroräume zu folgen, wo sich auch der Waschraum befand.
Der Mantel war reif für die Reinigung, sah Helene zuhause.
Was scherte sie sich auch um Dinge, die