„Wir werden uns erkälten und ich befürchte, tagelang das Bett hüten zu müssen“, jammerte Holtmann. „Was kann ich dafür?“, wollte Helene wissen.
„Dagegen“, berichtigte er. „Ich wäre Ihnen wirklich sehr verbunden, wenn ich Ihre Dusche benutzen könnte und Sie in der Zwischenzeit Mia trockenrubbeln könnten.“
Helene setzte soeben zu einer Erwiderung an, als, wie nicht anders zu erwarten, Frau Schulte ihre Wohnungstür öffnete.
Was sich hier abspielte, war unterhaltsamer als jeder Film und im Fernsehen werden ohnehin nur noch Wiederholungen gesendet.
Die Augen der alten Dame funkelten vergnügt. Sie wollte keinen Moment verpassen.
Da kümmerte es sie wenig, im Nachthemd und ausgelatschten Plüschschluffen dazustehen. „Frau Schulte, es ist nicht…“
Oh nein, Helene wäre am liebsten im Boden versunken. „Duschen können Sie auch hier unten und die Sportsachen meines Enkels, die ich heute gewaschen habe, sind schon trocken. Sie müssten Ihnen passen“, bot Frau Schulte an.
Herr Holtmann schenkte der alten Dame ein warmherziges jungenhaftes Lächeln, dankte artig und stand einen Moment lang unentschlossen da.
„Na, dann ist ja alles geregelt. Schönen Abend allerseits.“ Erleichtert wandte sich Helene zum Gehen.
„Benutzten Sie etwa eine Rheumasalbe?“ Holtmann litt augenblicklich unter erheblicher Atemnot. „Junger Mann, denken Sie bloß nicht, das Alter sei lustich“, belehrte Frau Schulte ihn. „Tut mir leid, Allergie“, stammelte Holtmann, fasste sich an die Brust und schleppte sich schwerfällig die Stufen hinauf.
„Haben Sie gehört: Junger Mann hat Sie gesagt“, tirilierte er nun. „Simulant!“, schimpfte Helene. „So können Sie das nicht sagen“, kam die Antwort. „Ich fühlte mich plötzlich um Jahrzehnte gealtert“, argumentierte er.
Ungefähr eine Stunde später, als er es sich auf der Couch gemütlich gemacht hatte, wirkte er in seinem TuS-Trikot eher wie ein Schuljunge. „Deine Butterbrote schmecken ausgezeichnet“, glaubte Helene zu verstehen.
Ihrem Gast gelang es, zwei Brotscheiben gleichzeitig in den Mund zu schieben. Vom Sessel aus betrachtete sie ihn genauer.
Seine schlanke sportliche Statur war ihr schon an der Haustür aufgefallen. Allerdings war seit dem letzten Frisörbesuch wohl schon eine ganze Weile vergangen. Widerspenstige blonde Strähnen standen in alle Himmelsrichtungen. Der stoppelige Drei-Tage-Bart wies indes graue Stellen auf.
„Ich bin übrigens Matthias“, stellte er sich vor. – „Helene“, entgegnete sie tonlos.
Seit sich dieses Hundeungetüm auf ihren Füßen gemütlich gemacht hatte, fühlten sich ihre Beine nass und schwer an. Obwohl sie das alte Handtuch, mit dem sie den Hund unbeholfen trocken rubbelte – man weiß ja nie, ob so ein Tier unvermittelt zuschnappt – bereits in die Waschmaschine gesteckt hatte, roch die Wohnung nach nasser Gartenerde.
„Ich weiß, wie du Mias Herz im Sturm eroberst“, sagte Matthias. „Gibt es bei dir Fleischwurst?“ Wortlos zeigte Helene auf den Kühlschrank. Fast gleichzeitig erhoben sich Herrchen und Hund.
„Hast du niemanden, der euch abholen könnte?“, fragte Helene vorsichtig und merkte sofort, dass die Stimmung kippte. „Nein“, entgegnete er, verabschiedete sich knapp und verschwand. Dem Hund blieb nicht einmal genug Zeit, die Wurst zu verschlingen.
Konnte es sein, dass das Leben plötzlich irgendwie leichter, schöner war?
Kindischer Unfug! Der Sonnenschein hatte eben positive Auswirkungen auf die Laune der Menschen, die Stadt schien sauberer, die Häuserfassaden strahlten freundlicher.
In ihrer Trauer gestand sie sich keine unbeschwerten Gedanken zu, basta! Als erstes bekamen die Balkonkästen die verdiente Runderneuerung.
„Ich habe den Zettel für dich auf die Treppe gelegt“, begrüßte Frau Schulte eines Abends ihre Vermieterin schmunzelnd.
„Er hat die Sportsachen heute vorbeigebracht. Sauber, wenn auch nicht ganz ordentlich gefaltet. Wir haben en Tass Kaff getrunken und uns dabei herrlich unterhalten. „Der wohnte früher am Uhlenhorst, ist noch gar nicht lange hier“, erzählte die alte Frau.
„Die Sachen lagen in so ´nem Stoffbeutel von einer Zoohandlung. Matthias hat gesagt, ich soll den Zettel in dem Beutel auf die Treppe legen. Aber dat is ja Quatsch. Die Tasche kann ich beim nächsten Einkauf gut gebrauchen. Oder hast du wat dagegen?“ Helene verneinte.
War die Tasche ein Wink mit dem Zaunpfahl? Vielleicht zu weit hergeholt. Helene stutzte, als sie das doppelseitig handbeschriebene Papier aus der Tasche zog.
Ohne Anrede kam er auf den Punkt: „Weder der AC Mailand, ManU noch die Borussia brauchen in dieser Saison einen erstklassigen Stürmer. Mein Agent hat strenge Anweisung, keinen Kontakt mit Bayern München aufzunehmen.
So schraubte ich meine Ansprüche herunter und fragte schließlich sogar bei TuSpo Huckingen nach, ob er an einer Zusammenarbeit mit mir interessiert sei. Weißt Du, welche Gegenfrage mir stattdessen gestellt wurde? Ob ich über eine Trainerlizenz verfüge? Unter diesen Umständen kann der rechtmäßige Besitzer die Sportbekleidung gern wieder haben.
Gruß Matthias P.S. Sehen wir uns bald?
„Der jeht janz schön ran“, meinte Frau Schulte, „das hat das Team in der Physiotherapiepraxis vorhin auch gesagt.“ – „Waaas?“, fragte Helene mit weit aufgerissenen Augen.
„Das Gekritzel kann doch niemand entziffern. Und die Leute in der Praxis sind doch so nett. Es hätte ja schließlich etwas Wichtiges sein können“, verteidigte sich die alte Frau. „Ich habe den Zettel mitgenommen, als ich eben zur Therapie musste und gemeinsam konnten die Leute dort den Text lesen“, erzählte Frau Schulte.
Helene packte das Papier und hastete so eilig hinauf, dass sie fast ins Stolpern geriet. „Immerhin hat sie den Brief nicht zerrissen“, murmelte die alte Frau und schlurfte in ihre Wohnung.
Eine unmögliche Person, wie konnte er sie so in Verlegenheit bringen? Beinah mechanisch legte Helene den Brief auf den Wohnzimmertisch.
Duschen, Schuhe putzen, Fernsehen. Sie fühlte sich leicht und fast ein bisschen glücklich. Ob es dem Hund gut ging? Bestimmt! Während der Schulferien besuchten sicher viele Familien das Tierheim. Und der Hund war ja eigentlich ganz nett.
Helene fühlte sich ein wenig verantwortlich für den Hund und lenkte ihren Wagen bei nächster Gelegenheit zum Tierheim.
„Während der Ferien ist es genau umgekehrt“, informierte die grüne Latzhose. „Etliche Leute denken bei der Urlaubsplanung nicht an ihr Haustier. Und abgesehen davon, dass Tierpensionen auch nur über begrenzte Kapazitäten verfügen, ist die Unterbringung dort selbstverständlich nicht kostenlos.“
So sehr sich haupt- und ehrenamtliche Tierheimmitarbeiter auch engagierten, der Hund, den Helene nun zum zweiten Mal besuchte, lehnte jeglichen Kontakt ab. „Wenn er ausgeführt wird, zieht er schon nach wenigen Metern Richtung Box zurück“, sagte die Latzhose.
„Und ob ich Sie zu dem armen Hund bringen soll, weiß ich wirklich nicht. Die letzte Begegnung mit Ihnen munterte ihn ehrlich nicht auf.“
„Ich weiß“, gestand Helene. Ihr Gang entlang der Boxen war von lautem Bellen, munterem oder auch ergebenem Winseln und unüberhörbarem Jaulen begleitet.
„Jeder will sich so gut wie möglich präsentieren“, erklärte die grüne Latzhose.
Der Fundhund hatte noch immer keinen Namen. Er zeigte der Welt wieder die kalte Schulter, oder besser, er drehte ihr den Hintern zu.
Weil Helene ihn mit „Na du, wie geht´s denn so?“, begrüßte, rollte Latzhose entsetzt mit den Augen und fasste sich an die Stirn.
Als habe er nur auf dieses Signal gewartet, drehte sich das Tier blitzschnell,