Historisches Wissen bedient Orientierungsbedürfnisse. Der Historiker führt dabei das bessere Argument gegen all jene ins Feld, die sich den «Reim auf die Vergangenheit machen, der ihnen passt».2 Er verflüssigt versteinerte Auffassungen, die staatspolitische Maximen wie die der Souveränität oder Neutralität zu unveränderlichen Grössen stilisieren und dabei ausser Acht lassen, dass auch sie erst unter bestimmten historischen Umständen zu Leitvorstellungen wurden und mithin wandelbar sind. Gegen das Verhaftetsein in statischen Geschichtsbildern, die Traditionen nicht als Ergebnis historischer Entwicklungen, sondern als Ausdruck ewiger Wahrheiten auffassen, schärft historisches Wissen den Sinn für die Kräfte der Verflechtung und Abgrenzung, denen der Kleinstaat Schweiz immer ausgesetzt war und die ihn letztlich überhaupt erst möglich gemacht haben. Der Blick auf die «longue durée» macht auf Handlungsmuster und -strategien aufmerksam, die langfristig die «conditions d’être» des Kleinstaats Schweiz in umfassenderen Machtkonstellationen und geopolitischen Zusammenhängen bestimmt haben.
Herbert Lüthy zur Ambivalenz von Geschichtsbewusstsein und Geschichtswahrheit (1964)
«Es ist gefährlich, wenn Geschichtsbewusstsein und Geschichtswahrheit, und damit auch Staatsbewusstsein und Staatswirklichkeit, so weit auseinanderrücken, dass wir von uns selbst nur noch in Mythen sprechen können. Wir haben uns eine Denkschablone des Eidgenössischen geschaffen, die weniger dazu dient, unsere Gegenwart zu gestalten, als uns vor ihr in Illusionen über uns selbst zu flüchten.»3
Urs Altermatt zur Notwendigkeit einer neuen Geschichtserzählung (2011)
«Was wir nach den Jahrzehnten der Einigelung brauchen, ist eine neue Lektüre unserer Geschichte, eine – und ich gebrauche bewusst dieses altmodische Wort – patriotische Erzählung, die für alle, die in der Schweiz wohnen, für Alteingesessene und für Zugewanderte, die ‹Idee Schweiz› neu reflektiert und uns diese jenseits von Denkmalpflege und von parteipolitischen Streitereien verständlich macht, eine Geschichtserzählung, die uns nicht von Europa absondert, sondern uns in diesem neuen Europa die Identität eines Mitakteurs gibt, denn es ist auf die Dauer keine Lösung, sich einfach vom europäischen Strom im automatischen Nachvollzug mitreissen zu lassen. Das Schlimmste wäre ein selbstauferlegtes Denkverbot in Bezug auf die Mission der Schweiz in Europa. Über die Schweiz nachdenken, heisst auch Europa mitgestalten.»4
Die in diesem Buch referierten Tatsachen sind bekannt. Neu mag allerdings der Versuch sein, die Geschichte der Schweiz konsequent unter dem Gesichtspunkt ihrer Verflechtung und Abgrenzung zu schreiben und diese gegensätzlichen Einstellungen in ihrem jeweiligen Wechselspiel zu betrachten, ohne sie gegeneinander auszuspielen. Dazu müssen die Sackgassen und toten Winkel eines nationalen Geschichtsverständnisses gemieden werden, das die Schweiz als ein Land versteht, das sich selbst genügt und seit je tapfer den Zumutungen der bedrohlichen Aussenwelt trotzt. Das Buch setzt deswegen mit einer Kritik des national verengten Geschichtsbildes ein. Diese schliesst auch eine Kritik der beiden populären Gründungserzählungen um das Rütli und um den Bundesbrief von 1291 ein, die beide von der Tatsache ablenken, dass die verbündeten Orte erst im 15. Jahrhundert begannen, sich als Teile eines grösseren Ganzen mit einer unverwechselbaren Identität zu begreifen. Wenn denn von einer eidgenössischen Gründerzeit die Rede sein soll, so trifft dies am ehesten auf das 15. Jahrhundert zu. Im Anschluss an diese Klärung der Ausgangslage macht sich die Darstellung auf den Weg durch die lange Geschichte schweizerischer Verflechtung und Abgrenzung. In zwei eigenständigen Abschnitten, die die alte Eidgenossenschaft sowie die moderne Schweiz des 19. bis frühen 21. Jahrhunderts gesondert betrachten, werden die langfristigen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aussenbeziehungen des Landes geschildert. Diese werden den geistigen Abgrenzungsbewegungen gegenübergestellt, die ebenso alt sind wie die Verflechtungszusammenhänge und von den komplexen Bemühungen eines Landes zeugen, in Auseinandersetzung mit dem grösseren geopolitischen Umfeld den eigenen Platz in Europa zu finden, zu behaupten und sich auf diese Weise seiner Identität zu vergewissern. Der Schluss fasst wesentliche Beobachtungen zusammen und verdichtet diese zu einem Plädoyer für eine transnationale Sicht auf die Schweizer Geschichte und damit auf die «condition d’être» eines Kleinstaats mitten in Europa.
Sackgassen und tote Winkel im nationalen Geschichtsbild
Gewöhnlich ist das Verständnis der Schweizer Geschichte in einer nationalen Perspektive gefangen. In einem eigentlichen Tunnelblick sucht dieses Verständnis in der Vergangenheit nach dem langen Weg von der alten Eidgenossenschaft zum Bundesstaat von 1848, der mit seinen drei staatspolitischen Grundpfeilern des Föderalismus, der Souveränität und der Neutralität als Vollendung eidgenössischer Staatsbildung vorgestellt wird. Historische Tatsachen, die sich nicht in dieses Bild der föderalistischen, souveränen und neutralen Schweiz fügen, gehen nicht in die nationale Erinnerungstradition ein.
Föderalismus: Ein hervorragender Erinnerungsort des nationalen Geschichtsbildes ist das Parlamentsgebäude in Bern. In den Arkadenzwickeln des Ständeratssaals finden sich Jahreszahlen, die nach dem Willen des Bauherrn die wichtigsten «politischen, für die staatsrechtliche Ausgestaltung der mittelalterlichen und modernen Schweiz massgebenden Abmachungen» vorstellen sollen.
Neun Jahreszahlen im Ständeratssaal von 1903 symbolisieren die föderalistische Bundesideologie5
Die gerade Linie von den Verträgen des Mittelalters zu den Verfassungen des 19. Jahrhunderts suggeriert, der Wille der Kantone zur Integration neuer Mitgliedstaaten und zum immer engeren staatlichen Zusammenschluss sei die treibende Kraft der Nationalgeschichte gewesen. Sie blendet aus, dass die Erweiterung der 13-örtigen Eidgenossenschaft zur 19-örtigen Eidgenossenschaft (Aufnahme der Kantone St. Gallen, Graubünden, Aargau, Thurgau, Tessin, Waadt 1803) allein der Vermittlung Bonapartes (1769–1821) zu verdanken war und die Aufnahme der Kantone Wallis, Neuenburg und Genf 1814/15 und damit die Bildung der 22-örtigen Eidgenossenschaft erst nach massiven Interventionen der europäischen Grossmächte glückte.
Souveränität: Die Schweizer Historiker des 19. Jahrhunderts richteten ihre Erzählung von der Entstehung der nationalen Souveränität an den Jahreszahlen 1499 und 1648 aus. Sie machten aus dem sogenannten Schwabenkrieg 1499 einen Freiheitskrieg der Eidgenossen, die mit ihrem Sieg faktisch vom Reich unabhängig geworden seien. Quer zu dieser Deutung steht allerdings die Tatsache, dass sich die Kantone auch nach 1499 noch von jedem neuen Kaiser ihre Reichsprivilegien bestätigen liessen, ein letztes Mal von Kaiser Ferdinand I. (1503–1564) im Jahr 1559. Noch wesentlich länger, bis ins 17., teilweise gar 18. Jahrhundert, brachten die eidgenössischen Obrigkeiten den doppelköpfigen Reichsadler an öffentlichen Gebäuden an.
Die Erzählung vom zweistufigen Prozess zur Unabhängigkeit vom Reich sieht im Westfälischen Frieden von 1648 den Durchbruch zur formellen Souveränität der Eidgenossenschaft. Auch sie blendet Tatsachen aus, die nicht recht zum unbedingten Souveränitätswillen der Orte passen: Der eidgenössische Gesandte Johann Rudolf Wettstein (1594-1666) verhandelte in Westfalen zuerst gar nicht um die Loslösung vom Reich, sondern um die Zusage des Kaisers, keine Basler Kaufleute mehr vor Reichsgerichte zu zitieren. Erst der französische Gesandte auf dem Friedenskongress flüsterte Wettstein die Idee ein, er solle um die Souveränität verhandeln. Der Basler Bürgermeister betrieb von nun an die formelle Klärung und völkerrechtliche Absicherung einer faktischen Unabhängigkeit, und dies zunächst gegen den Willen der katholischen Orte, die den uneindeutigen, gewohnheitsrechtlichen Zustand lieber so belassen hätten, als ihn durch unsichere diplomatische Verhandlungen zu gefährden. Frankreichs diplomatische Unterstützung war allerdings nicht uneigennützig. Es band fortan die aus dem Reich ausgeschiedenen Kantone umso enger an sich. König Ludwig XIV. von Frankreich (1638–1715, König ab 1643) mischte sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts als eigentlicher Protektor über die Eidgenossenschaft wesentlich stärker in die Angelegenheiten der Orte ein, als dies Kaiser und Reich jemals getan hatten.
Neutralität: Die Nationalgeschichte schildert auch die Entstehung dieser zentralen Maxime schweizerischer Aussenpolitik gerne als ein Stück in zwei Akten und hat hierfür die Jahreszahlen 1515 und 1815 ins kollektive