Kompetenzorientierter Unterricht auf der Sekundarstufe I. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
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Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783035504743
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u. Orthey 2002, 73) sichtbar werden. Die gängige Unterscheidung von Kompetenz und «totem Wissen» wird dabei als heuristisches Mittel verstanden, das heisst als eine intellektuell konstruierte Hilfe, um einen Sachverhalt deutlicher zu erfassen. Diese Unterscheidung hat sich allerdings längst zu einer empirischen Realität entwickelt, die sowohl die öffentliche als auch die wissenschaftliche Diskussion bestimmt und dazu führt, dass einigermassen «geschichtsvergessen» immer wieder neue Konzepte und Begriffe als «pädagogische Erlösung» zuerst erfreut rezipiert werden, bevor sie später enttäuscht durch neue ersetzt werden.

      Ende der 1950er-Jahre führte der amerikanische Psychologe Robert W. White (1904–2001) den Begriff competence in die Motivationspsychologie ein. White ging davon aus, das die bis dahin dominanten psychologischen Konzepte des Behaviorismus und der Psychoanalyse an die Grenzen ihres Erklärungspotenzials gelangt seien, da Motivation allein durch Triebe nicht erklärt werden könne (White 1959, 297). Er schlug deshalb vor, diese Leerstelle in den traditionellen Triebtheorien mit dem Begriff competence zu füllen, wobei competence sich auf die Fähigkeit eines Organismus bezog, «to interact effectively with its environment» (ebd.). Mit competence wollte sich White explizit nicht an eine bestimmte Theorietradition anlehnen; er begründete die Begriffswahl vielmehr damit, dass Kompetenz in ihren alltäglichen Bedeutungen geeignet sei, «to promote an effec­tive – a competent – interaction with the environment» (ebd., 318), was hauptsächlich anhand von Beispielen aus der Entwicklungspsychologie Jean Piagets gezeigt wurde (ebd., 317–319).

      Zwei Jahre später taucht der Begriff in einer Publikation der Educational Policies Commission[8] in Verbindung mit beruflichen Fähigkeiten auf. In dieser kurzen Schrift mit dem Titel «The Central Purpose of American Education» legte die Kommission dar, was die wichtigsten Ziele der amerikanischen Erziehung und Schule seien und wie diese am besten erreicht werden könnten. Angesichts einer sich stark verändernden Arbeitswelt, die immer mehr ausgebildete Fachkräfte brauche und immer weniger Arbeitsplätze für Ungelernte biete, sei die Steigerung der vocational competences eine dringende Aufgabe der Schule, wobei diese berufliche Kompetenz durchaus auch auf developed rational capacities angewiesen sei (Educational Policies Commission 1961, 6). Kompetenz baute also auf intellektuelle Stärken und war nicht als ihr Gegenkonzept gedacht. Allerdings war zum Bedauern der Kommission die konkrete Entwicklung der rational capacities bzw. der rational powers in der bisherigen Forschung noch kaum Thema gewesen: «The psychology of thinking itself is not well understood» (ebd., 13), weshalb es auch keine spezifischen Programme gebe, «to develop intellectual power» (ebd., 16).

      Aus heutiger Perspektive vielleicht eher überraschend sind die Vorschläge, welche die Kommission zur curricularen Umsetzung ihrer Empfehlungen formulierte. Sie erklärte nämlich, dass nicht nur der Unterricht in Mathematik oder Philosophie die geforderten rationalen Kräfte verbessere (ebd., 17), sondern auch verschiedene Erfahrungen in eher als «geisteswissenschaftlich», «schöngeistig» oder «ästhetisch» zu bezeichnenden Fächern. «Music, for example, challenges the listener to perceive elements of form within the abstract. Similarly, vocational subjects may engage the rational powers of pupils» (ebd., 18). Grundsätzlich sei es das Ziel von Schule, bei den Schülern den Wunsch nach sowie den Respekt vor Wissen zu wecken und sie zur Antwort auf die Frage zu befähigen, wie sie wissen, aber auch was sie wissen (ebd., 19). Damit wird Schule als Ort bestimmt, an dem wissenschaftliches oder zumindest an den Wissenschaften orientiertes Wissen und ein forschender Zugang zur Welt zu vermitteln ist, wobei die Entwicklung der rationalen Kräfte den Schüler auch befähigt, «to use his mind to make of himself a good citizen and contributing person». Oder anders formuliert: «The school should encourage the student to live the life of dignity which rationality fosters» (ebd., 20).

      Diese Organisation und inhaltliche Ausrichtung von Schule, wie sie sich als Folge der Progressive Education, der amerikanischen Form der Reformpädagogik mit ihrer starken Betonung des Learning by Doing, entwickelt hatte und unter dem Namen life adjustment movement bekannt geworden ist, rief Kritik sowohl vonseiten der liberalen Intellektuellen als auch vonseiten der strengen Antikommunisten und der traditionellen Konservativen hervor (Kliebard 2002, 106–108; Hartman 2008). Die Hauptkritik richtete sich gegen die Überzeugung, Schule habe ihre Schüler zwar auf die Arbeitswelt vorzubereiten, sie aber auch in ihrem physischen und psychischen Wohlbefinden zu fördern. Die damit verbundene antiintellektuelle Tendenz konnte sehr einfach mit den didaktischen Reformen der Progressive Education in Verbindung gebracht werden, während die geforderte Curriculumreform die Stärkung der traditionellen akademischen Fächer bzw. die Rückkehr zu ihnen zum Ziel hatte.

      Der später als solcher bezeichnete «Sputnikschock», das heisst die kulturellen und politisch-gesellschaftlichen Reaktionen in den USA auf den 1957 erfolgten Start des ersten künstlichen Erdsatelliten ins All durch die Sowjetunion, unterstützte diese Kritik. Die Niederlage im globalen Wettkampf um die Vorherrschaft im Weltall wurde der mangelnden Qualität der naturwissenschaftlichen Ausbildung in den Schulen angelastet, weshalb eine Reform des Curriculums[9] mit Schwerpunkt auf den naturwissenschaftlichen Fächern notwendig erschien (Kliebard 2002, 58–59).[10] Ziel des Unterrichts sollte die Vermittlung von zu Handlung befähigendem Wissen sein, mit dessen Hilfe der Wettlauf der beiden auf geopolitische Dominanz ausgerichteten Systeme gewonnen werden konnte. Ziel war also nicht der sich kompetent selbst verwirklichende Bürger des life adjustment movement.

      Diese Unterscheidung von handlungsleitendem Wissen, das für den geopolitischen Wettlauf hilfreich war, und einer kompetenten Lebensführung, die das individuelle Wohlbefinden zum Ziel hatte, wurde in der theoretischen Konzeptualisierung der international vergleichenden Schulleistungsstudien, die im Kontext des Kalten Krieges entstanden waren, nicht übernommen – im Gegenteil. Eine vergleichende Perspektive war nicht mit Testaufgaben möglich, die Wissen voraussetzten, das von den jeweiligen nationalen Lehrplänen abhängig war, sondern nur durch von konkretem Wissen unabhängige Testaufgaben. Statt also «totes Wissen» abzufragen, wurde auf das Konzept der Kompetenz rekurriert, mit dessen Hilfe Wissen getestet werden konnte, das für die Zukunft der Schüler als relevant galt, wobei diese Relevanz als vergleichbar beurteilt wurde (Tröhler im Druck).[11]

      Für die Verwendung und Weiterentwicklung des Kompetenzbegriffs im deutschsprachigen Raum war Noam Chomskys Unterscheidung von Kompetenz und Performanz bedeutsam, wie sie in der pädagogisch-psychologischen Debatte rezipiert wurde (Kobelt 2008, 10) und, zur «kommunikativen Kompetenz»[12] weiterentwickelt, auch in den Sozialwissenschaften Fuss fassen konnte (Grunert 2012, 54). Chomsky hatte 1965 in «Aspects of the Theory of Syntax», die 1969 unter dem Titel «Aspekte der Syntax-Theorie» in einer deutschen Übersetzung erschienen waren, (Sprach-)Kompetenz als «Kenntnis des Sprecher-Hörers von seiner Sprache» und Performanz als den «aktuellen Gebrauch der Sprache in konkreten Situationen» bestimmt (Chomsky 1972, 14). Der Mensch besitze ein angeborenes oder intuitives Muster der Spracherkennung, eine innere Sprachkompetenz, die durch die Sprechhandlung erst sichtbar werde und als das Resultat der Kompetenz zu sehen sei (Vonken 2005, 20). In seiner Theorie geht Chomsky von einer «idealen» Sprechsituation aus, das heisst von einer Situation, in welcher der Sprecher-Hörer von keinen Kontextfaktoren beeinflusst wird und nicht beeinflussbar ist. Er argumentiert damit nicht mit empirischen oder historischen Erfahrungen, sondern konstruiert seine Unterscheidungen und Argumente auf einer rein rationalen, von der Vernunft bestimmten Ebene (Chomsky 1972, 13). Die rational bestimmte Trennung von Kompetenz und Performanz ist denn auch in ihrem Modellcharakter zu verstehen.[13]

      In der deutschsprachigen Pädagogik wurde das Konzept der Kompetenz vor allem durch Heinrich Roth (1906–1983) wirkmächtig vertreten. Im ersten Band seiner zweibändigen «Pädagogischen Anthropologie» hatte sich Roth mit der Frage nach der Bildsamkeit und der Bestimmung des Menschen und damit mit normativen Fragen der Erziehung beschäftigt, wodurch er zeigen wollte, «warum diese Leerformeln [Erziehungsziele wie Mündigkeit, Kritikfähigkeit, Kreativität, Emanzipation] […] zur langfristigen Orientierung unverzichtbar sind» (Roth 1971, 14). Mit dem zweiten Band rekonstruierte Roth