Natürlich wird in diesem Kontext auch Persönlichkeitsbildung betrieben, und natürlich bereiten wir die Lernenden durch diese Praxis auf die Zukunft an den Universitäten vor. Selbstverständlich lernen sie sogar sehr viel fürs Leben, wenn wir sie in Lernprozesse verwickeln, in denen es für sie einzig darauf ankommt herauszufinden, wie der Lehrer es gerne hat und hört, was er für wichtig und richtig hält, von wo bis wo eine Aufgabe noch richtig oder schon falsch gelöst ist, wie viel Lösungsweg in welchem Umfang in die Benotung einfließt, welche Worte und Sätze er hören will, damit er zufrieden ist und die Schülerin eine entsprechende Note bekommt. Lernende werden durch dieses Setting recht genau auf eine Universität vorbereitet, die oftmals nicht anders vorgeht. »Genug geleistet« meint nämlich in dieser Denkform eine Menge und keine Qualität – auch und gerade im gymnasialen Lehrerberuf: Wie viele Prüfungen hast du vorbereitet, schreiben lassen und korrigiert diese Woche? Wie viele Stunden hast du für die Vorbereitung des Schuljahres, der Unterrichtseinheit, der Lektion verbracht? Wie viel deiner Arbeitszeit wurde in diesem Monat durch Administrationsaufwand geschluckt? Es geht um Mengen. Wolf Lotter hat dieses Phänomen als kulturellen Anachronismus beschrieben (Lotter 2008), der sich einem längst überholten Leistungsbegriff verdankt. Denn es sind ja in Wirklichkeit nicht die schiere Menge und der bloße Aufwand, die ein Lernen erfolgreich machen. Es ist ja auch nicht der Umfang der Speisekarte, der etwas über die Qualität eines Restaurants sagt. Die Überzeugung, dass »mehr Leistung« eine Qualitätsaussage sei, ist das eigentliche Problem, ebenso wie die Vorstellung, dass dieses »Mehr« identisch sei mit »besser«. Auch das Gymnasium ist ein System, das durchgehend auf Quantitäten basiert. Man geht ganz selbstverständlich davon aus, dass das, was Lernende tun, wenn sie lernen, zum Zwecke der Messung in Quantitäten erfasst werden muss und auch kann. Der Psychologe und Lerntheoretiker Klaus Holzkamp hat diese Vorstellungen in seiner brillanten Polemik »Die Fiktion administrativer Planbarkeit schulischer Lernprozesse« entlarvt (Holzkamp 1992).
Auch wenn die Rede auf die Qualität eines Gymnasiums kommt, setzt man gerne bei der Anzahl versetzter Schüler und bestandener Reifeprüfungen an und berechnet, wie viele von ihnen ein Studium aufnehmen und zu Ende bringen – und mit welchen Noten und in welcher Zeit. Deshalb ist das gute Gymnasium nach wie vor das reibungslose Gymnasium, in dem die Organisation gut funktioniert, Stundentafeln und -pläne in Ordnung gebracht werden, Pensenberechnungen und Lohnabrechnungen stimmen, Terminpläne, Anträge und Auswertungsformulare, Weiterbildungsaufwendungen und Stellvertretungspläne korrekt und fristgerecht ausgefüllt und eingereicht werden. Auch im Unterricht erfolgen Bewertung und Beurteilung anhand von Quantität: wie oft sich jemand – aus der Sicht der Lehrperson – wie intensiv am Unterricht beteiligt, welche Noten jemand schreibt, wie oft jemand fehlt, negativ auffällt oder positiv – selbstverständlich aus der Sicht der Lehrperson –, wie oft der Unterricht aus welchen Gründen auch immer ausfällt oder nicht. Guter Unterricht ist oftmals schon einer, der nicht ausfällt. Das sind die ausschließlich quantitativen Kontexte, anhand deren die Qualität von Schule gemessen wird. Was dabei im strengen Sinne von Qualitätskontrolle an einem Gymnasium nicht in den Blick gerät, und zwar konsequent, ist die Qualität selbst. Inklusive der Qualität der Unterrichtsgestaltung und der Lernprozesse.
Die Umkehr der Vorzeichen: Vom Lehren zum Lernen
Wenn aber das Lernen der Jugendlichen gegenüber dem Lehren der Lehrpersonen den Vorzug erhält, dann kommt umgehend die Qualität des Unterrichts in den Blick und damit die Frage nach der Qualität der Prozesse, in denen junge Menschen am Gymnasium lernen. Das ändert natürlich nichts an der Bedeutung der Lerninhalte, des »Stoffes«, um den sich heute nach wie vor alles dreht. Dieser bildet selbstredend ein wichtiges Moment des Lernens. Aber er ist nach einer Umkehr der Vorzeichen nicht mehr der unangefochtene »Herrscher über Gymnasien«.
Wenn das Gymnasium das Lehren dem Lernen unterordnet, nimmt der Stoff noch immer einen der oberen Plätze auf der Prioritätenliste ein, aber er bildet nicht mehr den Rahmen. Lernen am Gymnasium würde dann nicht mehr um des Stoffes willen erfolgen. »Stoff« wäre in der Schule dazu da, Lernen zu ermöglichen, zu qualifizieren und zu fördern. Wenn Lernprozesse am Gymnasium von diesem Anspruch her qualifiziert würden, dann wären sämtliche Lerninhalte funktional abzustimmen: »Schulisch erworbenes Wissen bewährt sich nicht, indem es auf spätere Berufs- und Lebenssituationen angewendet wird, sondern dann, wenn es die Chancen verbessert, neue Anforderungen situationsadäquat unter Berücksichtigung von Werten, Zwecken und Zielen zu interpretieren, und das zur Bewältigung der Anforderungen notwendige Um- und Neulernen erleichtert« (Deutsches PISA-Konsortium 2001, S. 30). Wissensinhalte (»Stoff«) sind für das Lernen der Jugendlichen nur brauchbar, wenn sie den Prozess des Lernens qualifizieren, nicht umgekehrt. Schulisches Lernen und Lehren hat also nicht irgendwelche Inhalte in die Hefte und Köpfe junger Menschen zu befördern. Der Stoff ist dazu da, dass sich junge Menschen klar beschreibbare Kompetenzen aneignen, mit deren Hilfe sie sich selbst und die komplex codierte Welt erschließen.
Das Wissensübertragungsmodell, das die Qualität von Bildung an der Menge des Stoffes bemisst, den eine Schülerin »beherrschen können soll«, entspringt der irrigen und längst widerlegten Vorstellung, dass es menschliche Lernprozesse mit Substanzen zu tun haben, die im Verlauf dieser Prozesse von A nach B transportiert werden. In dieser Vorstellung eignet sich ein Schüler oder eine Schülerin den Stoff in Form einer Substanz an, häuft Wissen an wie andere Geld oder Getreide. Lernprozesse verkommen in diesem Modell zu Versuchen, sich das Wissen und die vorgegebenen Zusammenhänge irgendwie zu merken. Allerdings findet das außerhalb des Unterrichts statt, weil dieser ja streng sachorientiert, will heißen, am Lehrer und seinem Material orientiert ist. »Viele Schüler […] klagen darüber, dass sie Inhalte und Prozesse des Lernens in der Schule als sinnlos erleben. […] Die wirkungsvollste und vor allem nachhaltigste Strategie gegen diese Schulverdrossenheit dürfte das didaktische Umsteuern von gedächtnisorientiertem zu verständnisintensivem Lernen sein, die Abkehr von der Bevorratung mit deklarativem Wissen, die Zuwendung zum Erwerb intentionalen, anwendungsfähigen Wissens, der Aufbau handlungsbezogener Kompetenzen« (Nipkow 2004, S. 68).
Um die Qualität gymnasialer Lernprozesse in den Blick zu bekommen, müssen wir zuerst nach Merkmalen suchen, die uns diese Qualität zu beschreiben und zu erfassen helfen. Solche »Standards« sind im modernen Bildungswesen auf der Seite der Lernenden mithilfe von Bildungsstandards, Bildungszielen und Kompetenzen formuliert, auf der Seite der Lehrenden mithilfe der »Lehrerexpertise« (vgl. Gläser-Zikuda/Seifried 2008; Reimann/Rapp 2008). Dennoch ist, wenn im Rahmen gymnasialer Bildung die tatsächliche Qualität in den Blick genommen wird, meist nur von den Schülerinnen und Schülern und ihren Leistungen die Rede. Was die Jugendlichen in welchem Umfang in sich aufnehmen können sollen und welche Kompetenzen sie an den Tag legen können, das ist hochreflektiert und klar formuliert. Welche Art von Schule und Unterricht dem entsprechen muss, das ist hingegen nicht annähernd so deutlich artikuliert. Wie lässt sich diese Art von »Schulqualität« beschreiben? Wo liegen hierfür die Referenzpunkte? Mithilfe welcher Begriffe lässt sich erfassen, wie ein Unterricht funktioniert, der die Lernenden und ihr Lernen in den Mittelpunkt des Interesses stellt? Carina Fuchs hat mit ihrem Entwurf eines »selbstwirksamen Lernens« eine belastbare und praktizierbare Antwort auf solche Fragen gegeben (Fuchs 2005). Welche Aufgaben den Lehrenden zukommen, wenn sie nicht lehren, sondern ihre Schülerinnen und Schüler als Lerncoaches zu persönlichen Lernerfolgen anstiften, das hat Fuchs in einer weiteren Publikation anschaulich konkretisiert (Fuchs 2006).
Für mich selbst bieten sich dazu folgende Kriterien an: Die Qualität gymnasialer – wie aller schulischen – Lernprozesse hat erstens etwas zu tun mit den Bedingungen,