Welchen Einfluss haben Lehrende auf das Lernen der Lernenden?
Vorschläge für eine Lernpraxis, die für Veränderungen sensibel wird
Vorwort, oder Worum es in diesem Buch geht
»Ihr sagt, ihr wollt alle nur unser Bestes. Aber ihr bekommt es nicht.«
Konstantin Wecker
Seit einiger Zeit macht eine neue Wortschöpfung die Runde: Bulimiepädagogik. Auf sarkastische Weise bringt der Begriff zum Ausdruck, was viele Lernende an höheren Schulen und Hochschulen als Normalfall erleben: das Auswendiglernen von Stoff – um ihn bei der Prüfung wieder herauszuwürgen. Der Gewinn: im besten Fall eine gute Note. Unzählige Studien beklagen diesen Umstand und eigentlich ist er ein offenes Geheimnis. Es gäbe eine Menge erprobter und nachhaltiger Alternativen, die finden aber nur sehr selten den Weg ins Gymnasium. Hier werden noch immer mehrheitlich direktiv-mechanistische Formen der »Wissensvermittlung« praktiziert; die Beziehung von Bildung und Sozialisation bleibt ein Tabu, ebenso die Reziprozität im Bewerten und Beurteilen. Auch hält sich der Irrglaube hartnäckig, dass alles, was mit Lernen zu tun hat, »quantifiziert« werden kann. Der Unterricht am Gymnasium ist und bleibt vertaktet, Lehrerinnen und Lehrer bleiben im Normalfall die Einzelkämpfer, die sie immer waren, und die Fächer beharren auf ihrer Autonomie statt sich grundsätzlich für Kooperationen zu öffnen.
Der erste Teil des vorliegenden Buchs ist eine offene, aber nicht schonungslose Analyse dieser Altlasten. Die Tatsache, dass am Gymnasium dem Lehren nach wie vor viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als dem Lernen, hat fatale Konsequenzen. Ich zeige auf, welche das sind und erkläre, weshalb lebendiges und nachhaltiges Lernen eine ebensolche Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden voraussetzt. Außerdem wende ich mich in diesem Teil des Buches der tiefsitzenden Angst der Lehrpersonen vor der Beurteilung ihrer Arbeit zu. Es kommen Schülerinnen und Schüler zu Wort, die ihre Erfahrungen zur Verfügung stellen.
Im zweiten Teil stelle ich erprobte Alternativen für eine neue gymnasiale Lernkultur vor. Gymnasien können eine »Kultur der Aufmerksamkeit« entwickeln, in der Lernende fähig werden, sich selbst zu bilden. Ich untersuche das Phänomen des Verstehens und zeige auf, unter welchen Bedingungen sich Schülerinnen und Schüler auf das beschriebene »Wagnis des Verstehens« einlassen. Im Anschluss skizziere ich eine neue Form der Gesprächskultur, welche ganzheitliche und nachhaltige Bildungsprozesse in Gang bringen kann.
Ich möchte mit dieser »Streitschrift« der Diskussion um ein überholtes Bildungsmodell neue Schubkraft verleihen und alternative Wege aufzeigen. »Bildung auf Augenhöhe« versteht sich als ein Plädoyer für eine Kultur der Achtsamkeit. Junge Menschen können lernen, ihre eigene Geschichte zu erzählen und wieder zu erzählen. Im Erzählen finden und erkennen Sie neue Formen des Menschseins, die im postmodernen Grundrauschen der Beliebigkeit Akzente des Humanen setzen.
Entstanden ist dieses Buch vor allem auf dem Hintergrund meiner Erfahrungen als Gymnasiallehrer. Unterstützt und herausgefordert wurde ich dabei von den Schülerinnen und Schülern. Zahlreiche eindrückliche Begegnungen mit jungen Menschen lehrten mich außerordentlich viel über deren Lernen – und über mich selbst, über meinen Beruf. Wichtig waren auch meine eigene Reflexionsarbeit in Supervision und Coaching sowie der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich seit vielen Jahren erfolgreich und fruchtbar zusammenarbeite.
Besonders herausfordernd und eigentlicher Anlass für dieses Buch waren und sind aber die unzähligen Widersprüche und Diskrepanzen innerhalb des gymnasialen Systems, die sich meines Erachtens allesamt auf einen Grundwiderspruch zurückführen lassen: Auf der einen Seite hat uns die Forschung der vergangenen Jahrzehnte bahnbrechende Einsichten in das Wesen des menschlichen Lernens gebracht. Systemisch-konstruktivistische Zugänge zu Bildung, Lernen und Lernsystemen erlauben uns heute faszinierende Erkenntnisse und Schlussfolgerungen für die Gestaltung schulischer Lern- und Bildungsprozesse. Dem steht auf der anderen Seite eine nicht nachlassende Hartnäckigkeit gegenüber, mit der sich das Gymnasium als Bildungssystem solchen Erkenntnissen und den damit verbundenen Chancen verschließt. Mehr noch: Die Qualität und die Nachhaltigkeit gymnasialen Bildungshandelns sind nach wie vor mehrheitlich dem Zufall überlassen, weil sich das System selbst konsequent und erfolgreich gegen den Einsatz alternativer Kriterien wehrt. Die Beharrlichkeit, mit der diese trotzige Resistenz aufrechterhalten wird, hat mich stutzig gemacht. Deshalb habe ich mich dazu entschlossen, den Unterricht einmal genauer in den Blick zu nehmen. Ausgerechnet das schulische Kerngeschäft bleibt dem öffentlichen Auge normalerweise verborgen – außer an Elternbesuchstagen und bei Hospitationen, und bei diesen Gelegenheiten wird ja bekanntlich ein wenig festlicher aufgetischt.
Mein eigenes Unterrichtskonzept setzt auf die systemisch-konstruktivistische Pädagogik und ist projektorientiert angelegt (vgl. hierzu die entsprechenden Autorinnen und Autoren im Literaturverzeichnis). So ein Konzept lebt von der regelmäßigen und konsequenten Reflexion – gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern. Deshalb lade ich die Lernenden mindestens einmal im Schuljahr dazu ein, über die Qualität ihrer Lernprozesse zu reflektieren. Die Methoden dazu entleihe ich der qualitativen Sozialforschung und passe sie von Jahr zu Jahr an. Die Jugendlichen lassen sich je länger, desto ernsthafter darauf ein, weil sie spüren, dass ihre Meinung tatsächlich zählt und positive Folgen hat. Sie können einerseits erkennen, dass ihre Rückmeldungen Anlass für die Reflexion und Gestaltung meiner Arbeit als Lehrer sind und sie mit ihrem Feedback deshalb auch ihren Nachfolgerinnen und Nachfolgern etwas zugutetun können. Außerdem finden sie sich in einer aktiven Rolle wieder, wenn es um die Planung und Umsetzung ihrer Lern- und Bildungsprozesse geht. Ich lade die Jugendlichen ein, über das zu berichten, was sie im Unterricht erleben, genießen und vermissen, was sie herausfordert und beklemmt, was sie weiterbringt und was sie blockiert. Daraus ist über die Jahre ein Dialog entstanden, der über Fächer und Jahrgänge hinausgeht und der so manchen Kollegen und so manche Kollegin neugierig gemacht hat. Sie möchten wissen, was uns die Lernenden über eine gute Schule zu erzählen haben.
Dieses Buch wurde auch durch Auseinandersetzung mit innovativen Ansätzen des Lernens möglich, mit denen ich mich als Lehrbeauftragter für die fachdidaktischen Studien an der Universität Luzern und als ausgebildeter Coach/Supervisor beschäftige – sei es in Form von Theorien oder in Form zahlloser spannender und kreativer Gespräche mit Studierenden, Klientinnen und Klienten, Kolleginnen und Kollegen.
Mein besonderer Dank gilt jenen, die sich die Mühe gemacht haben, das Manuskript dieses Buches im Vorfeld kritisch zu lesen und zu hinterfragen. Dabei denke ich vor allem an Heidi Pfäffli, Roman Ambühl und Jürg Bläuer. Besonders herzlich bedanke ich mich bei Noah Arnold1, der durch sein intensives Mitlesen und Einmischen die Perspektive eines Maturanden (Abiturienten) eingebracht hat. Die daraus entstandenen Diskussionen hatten einen überaus klärenden Einfluss auf das nun vorliegende Buch. Nicht zuletzt ist es mir ein Bedürfnis, dem hep verlag und seinem Verleger Peter Egger zu danken für den Mut, dieses heiße Eisen anzufassen.
1 Noah Arnold hat eine beeindruckende und prämierte Maturaarbeit über Altersdemenz verfasst mit dem Titel »Der rote Faden. Im Leben nicht verloren gehen«. Sie wurde 2012 im db-Verlag Horw/Luzern publiziert.
Kapitel 1:
Von der Bulimie zum Lernen – Eine Annäherung
Wer sich an der Volkshochschule für einen Kurs »Einführung in den Buddhismus« anmeldet, erwartet – unter Umständen zu Recht – gut aufbereitetes Wissen über diese Religion vermittelt zu bekommen. Wenn am Gymnasium das Thema »Buddhismus« dran ist, geht es aber in erster Linie um etwas anderes. Hier