Immerhin war er nach dem kurzen Telefonat sicher, dass sie ihn nicht abwimmeln wollte. Er gab in der Dienststelle Bescheid, nahm sich den Schlüssel für einen Streifenwagen und machte sich auf den Weg.
Er war dann doch angenehm überrascht, dass sich Frau Haberl um einen freundlichen Empfang bemühte. Aber gleichzeitig enttäuscht, dass ihre Freundlichkeit offensichtlich nicht ausreichte, ihn zu einem Kaffee auf die Terrasse zu bitten. Auch seine ohnehin ganz vorsichtig deponierte Bemerkung, dass man von der Terrasse einen unbeschreiblich schönen Blick über Krems haben müsse, bewirkte nichts. Sie bot ihm den Fauteuil im Wohnzimmer an, in dem er schon vor drei Tagen gesessen war, an dessen Beistelltisch schon ein Glas gefüllt mit Mineralwasser stand. Knapp vor seinem Kommen eingeschenkt, weil man die Perlen noch aufsteigen sah. Immerhin.
Er kam erst jetzt dazu, sich die Witwe etwas genauer anzusehen. Hätte er sie nicht schon vor vier Wochen gesehen, hätte er sie auf eine Endsechzigerin geschätzt. Mit einem Mal viele und tiefe Falten im Gesicht. Und sehr traurige Augen. Er hätte nicht sagen können, wodurch sich traurige von fröhlichen Augen unterschieden, aber er war hundertprozentig sicher, in sehr traurige Augen zu blicken. »Es ist noch immer schlimm, gell?« Seine Frage überraschte ihn selbst. Aber sie war ihm ein echtes menschliches Bedürfnis, das spürte er sofort.
Frau Haberl kämpfte mit ihren Tränen. »Wissen Sie, wir sind ein sehr glückliches Paar gewesen. Auch wenn wir leider keine Kinder gehabt haben. Haben Sie Kinder?«
»Ja, zwei.«
»Dann danken Sie dem Herrgott jeden Tag dafür. Mit Kindern wäre es nicht so schlimm. Weil sie mir jetzt sicher eine Stütze wären. Und auch, weil wir das weitergeben könnten, was mein Mann aufgebaut hat. Sie haben ja bemerkt, dass mein Mann nicht nur eine große Liebe zu seinem Beruf gehabt hat, sondern dass er damit auch geschäftlich sehr erfolgreich gewesen ist. Wer soll das jetzt alles übernehmen?« Sie blickte ihn an.
Er war nicht sicher, ob sie von ihm eine Antwort erwartete.
Zum Glück erlöste sie ihn umgehend aus dieser Unsicherheit, indem sie fortfuhr. »Aber jetzt bin ich doch neugierig, was die Obduktion ergeben hat?«
Der Gruppeninspektor trank noch rasch einen Schluck, wischte dann den Boden des Glases sorgfältig mit der Handfläche seiner Rechten ab und stellte es vorsichtig auf den Beistelltisch zurück. Nur keine Wasserflecken. Vielleicht war das Tischchen ja auch ein kleines Vermögen wert. »Die Obduktion hat nur ergeben, was ich Ihnen schon vor drei Tagen gesagt habe. Ihr Mann muss so unglücklich über die Stützmauer gefallen sein, dass er sich dabei das Genick gebrochen hat. Wahrscheinlich kopfüber gestürzt. Ist zwar ungewöhnlich, kommt aber nach der Feststellung des Pathologen gar nicht so selten vor.«
Die Skepsis im Gesicht der Witwe war nicht zu übersehen. »Und wenn er von jemandem gestoßen worden ist?«
»Frau Haberl, das ist natürlich theoretisch möglich. Aber dafür gibt es keinen Hinweis. Natürlich habe ich auch oben auf der Mauer nachgeschaut. Da stehen knorrige Wurzeln von den Weinstöcken aus der Erde, überall Unebenheiten, aber keine Kampfspuren. Ihr Mann hat doch keine Feinde gehabt, oder? Seine Geldbörse war auch gut gefüllt. Beraubt hat ihn also niemand. Glauben Sie mir. Ich habe in Mordermittlungen eine gewisse Erfahrung. Für Mord braucht es ein Motiv. Warum sollte jemand Ihrem Mann an einem schönen Sonntagnachmittag in einem Weingarten einen Stoß versetzen? Nur weil Ihnen jemand vor ein paar Wochen eine kleine Statue gestohlen hat, kann man doch nicht gleich annehmen, dass aus dem Einbrecher ein Mörder geworden ist.«
»Ach wissen Sie, Herr Gruppeninspektor. Um diese Plastik geht es gar nicht. Auch wenn er sie sehr geliebt hat. Die war, wenn es hoch kommt, vielleicht zehntausend Euro wert. Wobei ich zugebe, dass ich nichts von Antiquitäten verstehe. Mich beschäftigt etwas anderes. Mein Mann ist nach dem Einbruch irgendwie anders geworden. Nervöser und vorsichtiger. Hat gar nicht zu ihm gepasst. Er ist immer ein so lebensfroher Mensch gewesen.«
In diesem Moment hatte Felix Frisch einen Geistesblitz. So fühlte es sich zumindest an. Er wusste nur nicht so recht, wie er ihn formulieren sollte, ohne die Witwe zu verletzen. »Wenn ich Ihnen so zuhöre, Frau Haberl, kommt mir eine Idee. Ich könnte mir vorstellen, dass es Sie nicht begeistern wird, was ich Ihnen jetzt sage. Aber als einer der erfahrensten Polizisten der Kremser Polizei kann ich aus dem, was Sie mir da erzählen, nur einen Schluss ziehen.«
Die traurigen Augen von Frau Haberl, die schon die ganze Zeit auf den Gruppeninspektor gerichtet waren, wurden plötzlich ganz groß.
»Ihr Mann war gar nicht so lebensfroh, wie Sie annehmen. Im Gegenteil. Deshalb hat er für sich keinen Ausweg mehr gesehen und ist freiwillig aus dem Leben geschieden. Dazu passt auch der Genickbruch, der ja an sich bei Unfällen aus dieser Höhe selten ist. Ihr Mann hat sich kopfüber über die Stützmauer gestürzt. An Ihrer Stelle würde ich das aber nicht an die große Glocke hängen. Sie wissen ja, wegen kirchlichem Begräbnis und so.«
Natürlich war ihm klar gewesen, dass Frau Haberl über seine messerscharfe Schlussfolgerung, was den Tod ihres Mannes betraf, nicht glücklich sein würde. Hatte er ihr ja auch schon gesagt. Es war gar nicht auszuschließen, dass sie sich selbst Vorwürfe machte. Hätte er deswegen besser schweigen sollen? Nein. Dazu war die Wahrheit ein zu kostbares Gut. Und auch einer trauernden Witwe zumutbar. Aber ihre Reaktion! Unfassbar.
Gerlinde Haberl sprang auf. »Herr Frisch, Sie sind ein Idiot der Sonderklasse. Ich muss Sie dringend ersuchen, mein Haus zu verlassen. Auf der Stelle! Und eines kann ich Ihnen sagen. Diese Unverschämtheit wird noch ein Nachspiel haben.«
Gerade, dass sie ihm nicht die Mineralwasserflasche auf den Kopf schlug. So schnell er konnte, stand er auf und setzte seine Kappe auf. Da sah er durch die Glasscheibe der Terrassentür einen Streifenwagen. Mit rotierendem Blaulicht. Der unmittelbar vor dem Haberlschen Haus abrupt bremste.
Frau Haberl musste den Wagen ebenfalls bemerkt haben.
Nur Sekunden später läutete es an der Tür.
Ohne sich weiter um ihn zu kümmern, verließ sie den Raum in Richtung Tür.
Kurz darauf hörte er eine vertraute Stimme. Die seiner jungen Kollegin Kathi, die auch gleich ins Zimmer stürzte. »Wieso hast du denn dein Handy ausgeschaltet? Du sollst sofort zu der Stelle kommen, an der wir Herrn Haberl gefunden haben. Der Herr Landespolizeidirektor erwartet dich dort in einer Viertelstunde. Und nimm den Pathologie-Befund mit.«
Täuschte er sich oder sah er im Gesicht der Witwe so etwas wie den Ausdruck eines Triumphs? Egal. Letztlich würde er triumphieren. Gruppeninspektor Felix Frisch und der Herr Landespolizeidirektor Dr. Wolfgang Marbolt. Von einem solchen Gespann hatte er nie zu träumen gewagt. In fünfzehn Minuten würde seine große Stunde beginnen. Das spürte er ganz deutlich.
»Und noch einen schönen Gruß vom Chef. Du sollst ihm keine Schande machen!«
Er hoffte, dass Kathi den vernichtenden Blick, den er ihr zuwarf, auch richtig zu deuten wusste.
Mittwoch, 22. Juni 10 Uhr 35
Jetzt wartete er schon seit sechs Minuten an der Stelle zwischen Dürnstein und Weißenkirchen, an der er am vergangenen Sonntag gemeinsam mit Kathi den Streifenwagen abgestellt hatte. Aber vom Landespolizeidirektor noch immer keine Spur. Hatte er ja schon des Öfteren gehört, dass es in St. Pölten mit der Genauigkeit nicht so weit her war. Wobei er selbst sich gar nicht so nobel ausdrücken würde. Einfach Schlendrian, wohin er auch schaute.
Die Verspätung seines obersten Chefs hatte allerdings auch sein Gutes. Er konnte sich endlich mit der Frage befassen, wieso sich Wolfgang Marbolt überhaupt für den Kremser Antiquitätenhändler interessierte. Hatte nicht die Witwe von einem Nachspiel gesprochen? War damit der Polizeidirektor gemeint?
Er war so in seine Gedanken vertieft, dass er den Audi, der hinter ihm bremste, gar nicht hörte. Erst ein kurzes Hupen ließ ihn herumfahren. Schnell setzte er seine Kappe, die er wegen der Hitze abgenommen hatte, wieder auf und nahm Haltung an.
Der Polizeidirektor stieg aus