Langsam fuhren wir hin, unter dem malerischen Ufer zur rechten Hand, im Schatten seiner mit Tannen bekränzten Höhen – die Insel gerade vor uns. Rund um uns her ein Kranz von abwechselnden in einander laufenden Landschaften. – Biel am Fusse der mit Wald besetzten Klippen des finstern Jura; Nidau mit einzelnen Pappeln hinter uns; gegen Süden fruchtbare Felder, blühende Wiesen, bepflanzte Anhöhen und stille Lauben; gegen Norden die steilen Bergrücken, hinankletterndes Gesträuch, Eichen und Tannen; im fernsten Hintergrunde ein Horizont von glimmernden Schneefeldern und Wolken unter einander; jede Minute ein neuer Himmel und eine neue Erde! mit jedem Athemzuge eine neue Aussicht! Ein sanfter Regen, der kaum fünf Minuten währte, in dessen Tropfen die Sonne einen Regenbogen bildete, während der ganze übrige Himmel klar war, verschönerte dies alles nur noch mehr.
Der geringe Wind, der da wehte, legte sich allgemach; die Seefläche ward ein wenig von der leisen Luft gekräuselt; der letzte Hauch verschwand – es ward ganz stille. Welche paradiesische Ruhe! welches Umfassen! welches Umarmen! Die ganze lächelnde Natur schien im wollüstigen Schlummer mit liebevollen Bildern zu spielen – und kaum vermochten wir es über uns, sie und uns selbst mit den schlagenden Rudern aus dem seeligen Traume zu erwecken.
Wir näherten uns allmählig der herrlichen Insel. Die sanfteste Erinnerung mischte sich in unsern stillen Genuss – die Erinnerung an ihren ehemaligen Bewohner, unsers Jahrhunderts menschlichsten Menschen. Wie oft glitt er in einem kleinen Boote über diesen Smaragdspiegel hin! – Wie viele angenehme Stunden verträumte er hier in süssen Schwärmereyen! O, warum ist er nicht länger hier? Noch ist die Natur eben so schön, noch lächelt sie eben so freundlich! So eben opferte sie ihrem abgerufenen Freunde eine Thräne; aber sein Geist schwebte im Regenbogen. – So ward sein Leben in stetswährenden Widerwärtigkeiten vollbracht; so waren seine hellern Schriften im Nebel seines Zeitalters – ein Wiederschein von der Sonne der Wahrheit im Prisma der edelsten Gefühle.
Ich fragte den ältesten von unsern Ruderern, ob er etwas von einem gewissen Rousseau gehört hab? – «Ja gewiss!» antwortete er, «Jean Jacques Rousseau, so hiess er; ich habe ihn recht gut gekannt – er wohnte im Hause auf jener Insel; aber er wollte sich nie recht sehen lassen, und doch wollte jedermann ihn so gerne sehen. Es war ein braver Mann – Ja er hat viele Bücher gemacht», fuhr er fort, da ich ihm seine Bekenntnisse zeigte, – «das war sein Unglück! Hätte er es nur seyn lassen; obgleich man doch sagt, dass viel Verstand darin seyn soll. – Sie werden jetzt seine Stube sehen, in der er so manche Nacht geschlafen hat», u.s.w. Er erzählte uns in seinem gebrochenen französischen Dialekt verschiedene Anekdoten von seinem Aufenthalte hier auf der Insel; aber da ich sie nachher vollständiger und zuverlässiger von dem alten Meier und seiner Frau in Twann hörte, so will ich sie hier übergehen.
Die Gondel näherte sich endlich der östlichen Seite der Insel, die aus einem ziemlich hohen, übermässig steilen, ganz nackten Felsen besteht, dessen oberster Rand mit Buschwerk bekränzt ist. Wenn man von Biel oder Nidau herkommt und nur diese Aussenseite sieht, sollte man sie für eine öde, ganz unbewohnbare Klippe halten. Aber wir drehten uns jetzt nach ihrer südlichen Küste, wo der See eine kleine Bucht bildet, und hier ward die Scene ganz verändert. Etwas einladenderes als dieses Vorland kann man sich nicht vorstellen. Der See scheint sich hier zwischen die Fruchtbäume und Weinreben einzuschleichen. Es ist der zu Küssen lockende Mund der Natur.
Wir stiegen ans Land. Meine Knie zitterten. Es war mir zu Muthe wie einem furchtsamen Liebhaber, der zum erstenmahl sich der Geliebten nähert, um ihr seine Leiden zu erklären. Ich stieg ans Land, oder eigentlich ich sank darauf hin; denn am ersten Stein kniete ich unwillkührlich, und küsste die Erde. Ich ward über mich selbst verlegen, und verbarg diese Bewegungen vor den Leuten, die sie nicht verstanden, und selbst vor M[oltke], indem ich etwas zu suchen schien; denn die Vernunft, wenn sie auch gleich die Gefühle des gerührten Herzens billigt, erröthet doch über deren Ausdruck. Wir gingen durch eine kleine natürliche Allee, mit einem Weinberge auf der einen, und einem spiegelhellen Kanal durch die Wiese auf der andern Seite, herauf nach dem Meierhofe, dem einzigen Hause auf der Insel, das auswendig sehr einfach und vollkommen ländlich aussah. Hier trafen wir den Steuereinnehmer oder den Verwalter über dieses Paradies. Wir fragten ihn, ob wir die Nacht auf der Insel zubringen könnten; aber es hiess, es sey unthunlich, ohne Erlaubniss von dem Hospitalvorsteher, Herrn Tribolet zu Bern. Da es nun für uns weitläuftig und unpassend war, nach Bern zu laufen, um diese Erlaubniss zu holen, so versprachen wir ihm, alle Verantwortung auf uns zu nehmen, wenn er uns erlaubte da zu bleiben, und einen Brief an Hrn. Tribolet zu schreiben, der alles gut machen sollte. Der gute Mann gab endlich unsern inständigen Bitten nach. Unsere erste Frage war nun nach Rousseau’s Zimmer. Er führte uns dazu hinauf. Wir giengen vom Hofe eine ziemlich lange steinerne Treppe hinan, nach einem Gange, von dem wir zuletzt drei Tritte hinab durch eine Küche in Rousseau’s Kammer kamen, die kleinste und unansehnlichste in dem ganzen weitläuftigen Hause, die er aber eben ihrer Simplicität und abgesonderten Lage wegen sich gewählt hatte.
Ich weiss nicht, ob sein Schatten mir wirklich entgegen kam, oder ob es mir nur so schien; aber es war mir unmöglich, mit einem Sprung gerade hinein zu laufen. Es kam mir vor, als ob etwas mich fragte: Bist du Mensch? oder strebst du wenigstens ernstlich es zu werden? Ich blieb einige Sekunden auf der Treppe stehen, bis ich endlich mit einer gewaltsamen Anstrengung Muth fasste und hineingieng. Kaum war ich hineingekommen, und sein kleines Gypsbildniss, das auf dem Ofen stand, gewahr geworden, als Thränen mir so gewaltig aus den Augen stürzten, als wenn das Blut von meinem Herzen dahin geströmt wäre. Ich näherte mich ihm; – es war mir nicht länger ein Bildniss, es war er selbst – ich liess meine Thränen auf seine Füsse fallen. «Dein Geist ruhe über meinen Bestrebungen!» – war ungefähr der Inhalt meines Gebetes, die Summe meiner Gefühle.
Quelle: [Jens Immanuel Baggesen]: «Rousseau’s Insel oder St. Peter im Bielersee». Fragment aus Baggesens Reisen, aus dem Dänischen übersetzt. In: Neuer Teutscher Merkur (1795), S. 13–19.
1802
Heinrich
von Kleist
Paris —
Basel —
Bern —
Thun —
Bern —
Weimar
Thun mit einer Ansicht von Schloss, Aare und See. Farbkupferstich, gemalt von Friedrich Rosenberg, gestochen von Charles-Melchior Descourtis (um 1790).
Auf der Insel wohnt auch weiter niemand, als nur an der andern Spitze eine kleine Fischerfamilie, mit der ich schon einmal um Mitternacht auf den See gefahren bin, wenn sie Netze einzieht und auswirft.
Heinrich von Kleist (1802)
Von Heinrich von Kleist gibt es nur ein einziges Bildnis (siehe Porträt Seite 52), das uns eine ungefähre Ahnung davon vermittelt, wie dieser Wortmagier wohl ausgesehen haben mag, der Mann, der die Ausdrucksfähigkeit des Deutschen bis an die Grenzen des Möglichen getrieben hat. Es ist 1801 vom Maler Peter Friedel angefertigt worden und taucht auf praktisch jedem Buchumschlag, jedem Ausstellungsplakat, auf allem auf, was mit Kleist zu tun hat – eben weil es kein anderes gibt (um ganz präzise zu sein: ein zweites Porträt ist 1807 von einem Laien gemalt worden, es ist zwar ein visuelles Dokument, aber eben so ungelenk-dilettantisch ausgeführt, dass es fast wie eine Karikatur wirkt). Das Bildnis aus Friedels Atelier misst winzige 5,5 auf 7 Zentimeter. Kleist hat es seiner Verlobten Wilhelmine von Zenge geschenkt, bevor er im Sommer 1801 für längere Zeit auf Reisen ging. Und sie hatte ihm eins von sich mitgegeben, im selben Format. «Küsse mein Bild, Wilhelmine, so wie ich so eben das Deinige geküsst habe …», lauten Kleists