Der verstand, was dies zu bedeuten hatte, und erinnerte sich an das Kuvert, das er in der Innentasche seiner Jacke verwahrte. Bei dieser Summe sollte sich das Trinkgeld locker ausgehen, dachte er sich, ließ sich aber nichts anmerken. Wichtig war einzig und allein, dass das Fest morgen gelang.
»Dann wollen wir vielleicht …« Pater Anzelm zögerte.
Dr. Fried ließ noch einmal den Blick wandern. Das Altarbild war eine der vielen kleinen Besonderheiten der Kapelle. Es war auf Goldgrund gemalt und stellte die Kommunion des heiligen Stanislaus aus der Hand eines Engels dar. Auf diesem als Wunder deklarierten Ereignis basierte seine spätere Heiligsprechung. Und hier, in diesen Räumen, in Dr. Frieds Heimatstadt Wien, hatte sich dieses Wunder ereignet. Wenn man denn daran glaubte.
Dr. Fried jedoch war ein nüchterner Mann. Insofern beeindruckte ihn der Raum nur als Ort der Erinnerung an seine eigene Hochzeit, seine jungen Jahre. Auch der an Girlanden erinnernde Stuck an der Decke war sicherlich beachtenswert, Dr. Fried aber nahm ihn schlicht und ergreifend als gegeben hin.
Der Stuck umrahmte zwei Deckenmedaillons, die Szenen aus dem Leben des Heiligen darboten. Das eine zeigte die aufregende Flucht Stanisław Kostkas aus Wien vor den Jesuiten, die ihn aus Angst vor seiner Familie nicht in ihren Orden aufnehmen wollten. Das andere stellte seine Aufnahme in den Jesuitenorden in Rom durch den damaligen General Francisco de Borja dar.
Als Dr. Fried sich gerade zum Gehen umwandte, fiel sein Blick erneut auf den Altar. Unscheinbar standen dort zwei hölzerne Statuen. Ein Petrus, einige Jahrhunderte alt, etwa sechzig Zentimeter hoch und braun. Von seinem Heiligenschein waren ein paar Strahlen abgebrochen. Daneben war eine aus Holz geschnitzte Darstellung der Taufe Christi durch Johannes aufgestellt. Dr. Fried näherte sich dem Petrus, der fein gearbeitet war und doch ausgesprochen massiv wirkte, und besah ihn sich genauer.
»Eindrucksvoll«, murmelte er so leise, dass Pater Anzelm ihn wohl nicht hörte.
»Dann wollen wir vielleicht in mein Büro gehen?«, setzte der Geistliche erneut an, bekreuzigte sich bei einem angedeuteten Kniefall vor dem Altar und ging voraus. Dr. Fried machte ebenfalls das Kreuzzeichen, eher aus alter Gewohnheit als aus religiöser Überzeugung, und folgte dem Mann in der schwarzen Soutane.
»Ja, der Petrus«, schwadronierte Pater Anzelm, während sie über den Gang schritten. Er hatte Dr. Frieds Interesse voller Genugtuung zur Kenntnis genommen. »Die Statue ist mehrere hundert Jahre alt. Dafür ist ihr Zustand ausgezeichnet«, beurteilte Pater Anzelm, wohl unter Anspielung auf den lädierten Heiligenschein.
»Ein kostbares Stück«, überlegte Dr. Fried. »Und Sie lassen den Petrus einfach so offen und ungeschützt auf dem Altar stehen?«
Pater Anzelm lächelte milde. »Ja, wahrhaft kostbar. Der Wert der Statue ist pekuniär nicht zu bemessen. Sie ist wahrlich unersetzlich. Aber in unserer Stanislauskapelle ist noch nie etwas passiert. Die Menschen sind ehrlicher, als Sie denken, Herr Regierungsrat. Doch bei Ihrem Beruf kann ich Ihre Bedenken verstehen.«
Pater Anzelm zog die braune Tür am Gangende auf und ließ Dr. Fried den Vortritt, bevor er wieder die Führung übernahm. Der kurze Gang dahinter führte in drei weitere Räume, von denen Dr. Fried einen bereits kannte. Genau diesen betraten sie.
Ein kleiner massiver Schreibtisch dominierte das Zimmerchen, dessen minimales Fenster auf die Straße wies. Es spendete ausreichendes Tageslicht, um den günstig aufgestellten Schreibtisch auszuleuchten.
Der Stuhl des Priesters war ein schwarz lackierter Drehholzstuhl. An der Seite des Tisches stand ein vierbeiniger Stuhl mit einer hellen Rattansitzfläche. Man saß nicht sonderlich bequem darauf, wie Dr. Fried bereits wusste, doch er nahm auch diesmal darauf Platz, nachdem er den Staubmantel über die Lehne geworfen hatte. Den Hut legte er sich auf den Schoß und schob die rechte Hand in das Innere seiner Jacke.
Pater Anzelm sah ihm aufmerksam dabei zu. Wäre Dr. Fried Maler gewesen und hätte den Auftrag erhalten, eine Allegorie der Geldgier zu malen, er hätte die Augen und Stirnpartie dieses Mannes gewählt.
Dr. Fried zog ein weißes Kuvert hervor. Es war verschlossen und bedruckt mit dem Schriftzug »Institut der k. u. k. Polizeiagenten in Wien«. Er hatte den Umschlag aus dem Büro mitgenommen. Langsam reichte er ihm dem Priester hinüber, der nur mehr an der äußersten Kante seines Stuhles saß und fast herunterzukippen drohte.
»Haben Sie besten Dank, besten Dank, Herr Regierungsrat!« Pater Anzelm drehte das Kuvert kurz in den Händen, tastete es mit Zeige-, Mittelfinger und Daumen ab und legte es dann ungeöffnet auf seinen Schreibtisch.
»Wollen Sie nicht nachzählen?«, fragte Dr. Fried und musste sich eingestehen, dass er dem Geistlichen brennendes Interesse daran unterstellte, das Kuvert wild aufzureißen und die Geldscheine herauszuziehen.
»Aber Herr Regierungsrat!«, widersprach Pater Anzelm vehement. »Ich habe natürlich das vollste Vertrauen zu Ihnen. Sie würden mir sicher nicht weniger als die angemessene Summe überreichen.« Er klopfte mit den Fingern auf den Umschlag. »Außerdem: Morgen ist ja auch noch ein Tag, und ich denke, die Kollekte bei der Hochzeitsmesse wird noch einiges bringen. Die Stanislauskapelle wird es Ihnen danken. Ich werde es Ihnen danken. Ach, was sage ich: Unser heiliger Stanislaus wird es Ihnen danken!«
Sein Blick richtete sich hinauf gen Himmel, wurde jedoch abrupt abgebremst von der schmutzig weißen Decke des kleinen Zimmers, in dem die beiden Männer beisammensaßen.
Drittes Kapitel:
29. Juni, vormittags
»Fräulein Dr. Amalia Wilhelmina Fried! Wollen Sie den hier anwesenden Herrn Ingenieur Maximilian Ritter von Becker zu Ihrem Gemahl nehmen, ihn lieben und ehren …«
Amalia Fried träumte vor sich hin. Sie stand in ihrem Brautkleid vor dem Spiegel und betrachtete sich ausgiebig von vorne, von links, von rechts und drehte ihren Oberkörper in alle Richtungen. Ihre beiden besten Freundinnen Julia und Veronika waren in der Rolle der Brautjungfern bei ihr, und das Lachen, Kichern und die endlose Freude nahmen kein Ende. In wenigen, sehr wenigen Stunden würde sie Frau Becker sein.
Das Collier ihrer verstorbenen Mutter trug sie um den Hals. Es lag auf dem züchtigen Ausschnitt und glänzte, als wäre es neu. Ihr Vater hatte es aufpolieren lassen. Eine dicke, hüfthohe Kerze stand neben dem Spiegel, weiß, mit der Aufschrift »Mama«. Amalia würde sie höchstpersönlich auf dem Altar platzieren und somit ihrer Mutter die Anteilnahme an ihrem bisher schönsten Lebensmoment ermöglichen. So hatte sie es sich immer in ihrer Fantasie ausgemalt, seinerzeit als Siebzehnjährige, bald nach Mutters Tod, und jetzt als neunundzwanzigjährige Frau mit einem abgeschlossenen Psychologiestudium. Sie hatte gelernt, als Frau ihren Mann zu stehen.
Ihr Vater war stolz auf sie. Sie hatte sich in schweren Jahren ihres Lebens bewährt, sie war nicht untergegangen. Sie wusste sehr wohl, dass es seine Angst gewesen war, dass die junge Frau, noch Schülerin, abstürzen könnte. Ja, es hatte Irritationen gegeben. Sie hatte sich schwer getan mit dem Lernen, ganz plötzlich. Was ihr zuvor leicht von der Hand gegangen war, hatte sich nun schwierig, zäh und mühsam gestaltet. Doch ihr Vater hatte sie immer unterstützt und ihr gut zugeredet. Er war ein guter Vater gewesen. Und war es noch.
Ihr Vater mochte Maximilian Ritter von Becker. Vielleicht sah er in ihm jenen Schutz und jene Sicherheit für seine Tochter, nach denen er immer gestrebt hatte. Ein klassisches Männer- und Ehebild. Sie nahm es ihrem Vater nicht übel, er gehörte schließlich einer anderen Generation an. Und sein Motiv war allemal ehrenhaft.
Julia und Veronika schwirrten um Amalia herum und zupften hier und zupften da. Nicht mehr lange und das Automobil, das ihr Vater bestellt hatte, würde vorfahren. Es